Ciara
hier!«, bestimmte Paul, während er Mike aus dem Wagen half. »Verschließ die Türen von innen und duck dich, falls jemand vorbeigehen sollte. Ich bin gleich zurück.«
Nachdem sich Paul außer Sichtweite befand und auch sonst niemand auf dem Parkplatz zu sehen war, kletterte Ciara aus dem Auto und drückte leise die Beifahrertür ins Schloss.
Eine Panikattacke presste sie gegen den Wagen. Hektisch blickte sie um sich. In der Dämmerung erkannte sie die parkenden Autos, das Krankenhausgebäude und den angrenzenden Park deutlich. Sie schaute nach oben, doch der Himmel war bedeckt. Kein Stern, kein Mond, der die karge Straßenbeleuchtung auf ihrem Weg nach Hause unterstützen würde.
Leise sprach sie sich Mut zu, während sie sich langsam von Pauls Wagen und mehr und mehr vom Krankenhaus entfernte: »Du bist jetzt vorbereitet. Du bist eine gute Kämpferin. Noch einmal lässt du das nicht zu.«
Eine Mutter mit ihrem Kind an der Hand kam Ciara entgegen. Sie runzelte die Stirn und zerrte ihren Sohn rasch auf die andere Straßenseite.
Ciara hob den Arm und wollte rufen, dass nicht sie es sei, die sich wie wahnsinnig aufführte, doch dann zögerte sie, ließ den Arm sinken. Vielleicht war sie nicht minder wahnsinnig als der Mann, der sie überfallen hatte?
Ohne sich umzusehen, ging Ciara mit schnellen Schritten weiter.
Bevor sie überstürzt zu Mike gefahren waren, hatte sie zu Hause einen vierten Blutbeutel verbraucht, das XP-Serum erstmalig gespritzt bekommen und ausreichend gegessen. Noch wussten sie nicht, ob das Serum auch bei ihr anschlug und wie viel Blut sie tatsächlich benötigte. Doch Paul hatte Ciara gewarnt, dass jede neue Verletzung, unabhängig von der Höhe des Blutverlustes, und starke physische und psychische Belastung ihren Körper an seine Grenzen führte. Entzugserscheinungen wären die Folge, und ihr Körper würde dann vermehrt nach Kohlenhydraten und möglicherweise nach dem Serum verlangen. Wenn er dies nicht rechtzeitig bekam, benötigte Ciara Blut. Sie plante, pfleglich mit ihrer Gesundheit umzugehen. Zumindest so lange, bis sie ihren Peiniger gefunden hatte. Darum konzentrierte sie sich auf den regen Abendverkehr. Erst als sie sicher war, dass kein Auto kam, das sie anfahren konnte, überquerte sie die Straße. Sie ging zügig, aber nicht so schnell, dass sie außer Atem geriet.
Bei jedem Schritt spürte sie eine Veränderung in sich. Hass schwoll in ihr heran und stoppte ihren Verstand. Stets war sie auf der Suche nach ihrem persönlichen Wegweiser gewesen; jetzt, so glaubte sie, hatte sie ihn gefunden, jedoch nur, um Rache zu nehmen.
Ein Teil von ihr bezweifelte, dass sie den richtigen Kurs einschlug, doch der andere, dunkle Part, der derzeit ihr Denken regierte, freute sich darauf, den Groll mit dem Blut des Täters zu löschen.
Sie verließ den beleuchteten Bürgersteig und bog in den Trampelpfad ein, der sie zu ihrem Haus brachte. Ohne es bewusst wahrzunehmen, begann sie zu rennen. Erst als sie völlig außer Atem war, drang Pauls Warnung zu ihr durch. Ciara stoppte. Es war dunkel. Doch ihre Augen konnten besser in der Nacht sehen, als sie es sich noch vor drei Tagen auch nur hätte vorstellen können. Sie schaute zum Himmel, dicke Wolken verdeckten das Mondlicht. Im Gebüsch links von ihr raschelte es. Ciara fuhr herum. Lauschend bewegte sie sich langsam von dem Geräusch weg, den Blick nicht von den düsteren Schatten abwendend. Erst als sie sicher war, dass der Abstand groß genug war, drehte sie sich um und rannte los. Mit jedem Meter, der sie ihrem Heim näher brachte, bekam ihre Vergangenheit eine tiefere Bedeutung, und vieles schien nun einen Sinn zu ergeben. Kleinere Verletzungen und Wunden waren mit jedem Mal schneller geheilt, meist mit Hilfe von Kräutern und Umschlägen. Kinderkrankheiten hatte sie nie durchlitten und auch vor Erkältungen war sie stets gefeit gewesen, geschützt durch die Tees ihrer Mutter. An Samhain, wenn andere Menschen auf Halloween-Partys ausgelassen feierten, hatte es, soweit Ciara sich zurückerinnern konnte, jedes Jahr ein großes Fest gegeben, zu dem alle ihre Bekannten und Verwandten – die sie sonst nie sah – in geisterhaften Verkleidungen angereist waren. Ansonsten hatten ihre Mutter und sie, bis auf unvermeidliche Termine, zurückgezogen und eher wie Freundinnen miteinander gelebt, zwischen denen meist Harmonie herrschte.
Für einige schwere Atemzüge schwappte eine Welle von Selbstmitleid und Einsamkeit über den Hass, unter der sie
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