Ciara
Lenkrad, schloss die Augen und suchte sein Zentrum. Schon nach wenigen Sekunden fand er es, riss den Vorhang hinunter und entblößte dort sein drittes Auge, mit dem er in Ciaras Gedanken eindrang. Er lächelte, als er ihr rotes Haar in der Menge erspähte. Sie kam aus der Bank und bewegte sich in Richtung Bahnhof. Paul schloss sein inneres Sehvermögen und öffnete die Augen. Ciaras Unachtsamkeit nutzte er als seine Chance.
Obwohl es ihn drängte, Gas zu geben, fuhr er vorschriftsmäßig. So vermied er, von der Polizei gestoppt, von einer der in unregelmäßigen Abständen montierten Radaranlagen geblitzt oder auf dem Glatteis in einen Unfall verwickelt zu werden. Mit dem Auto würde er zum Bahnhof je nach Verkehrsaufkommen bis zu einer Viertelstunde brauchen. Wie aber war Ciara zu Fuß so schnell dorthin gelangt? Genauso wie er, lebte Ciara als Einzelgängerin. Und Menschen wie sie verließen sich nur in sehr seltenen Fällen auf Fremde. Vermutlich war sie deshalb abgehauen, denn nichts weiter war Paul für sie – ein Fremder.
Abrupt lenkte er den Wagen auf den Haltestreifen einer Bushaltestelle und bremste. Mit lautem Hupen empörte sich der ihm folgende Wagen über das unerwartete Manöver.
»Sie hat mich reingelegt.« Mit einer Faust schlug er auf das Lenkrad. »Verdammt noch mal. Sie hat mich reingelegt. Dieses Biest.«
Neugierig blinzelte das Frettchen ihn an, bettete dann seinen Kopf auf die Vorderpfoten und schlief weiter.
Paul bewunderte Ciaras Fähigkeiten. Sie hatte damit gerechnet, dass er versuchen würde, ihr auf diese Weise zu folgen, und deswegen ein Bild in ihr Gehirn projiziert. Er hatte die Falle nicht bemerkt, die mentale Projektion abgerufen und sich in die Irre leiten lassen.
Rasch warf er einen prüfenden Blick in den Rückspiegel, einen weiteren über die Schulter und wendete auf der Fahrbahn. Der Wagen drohte, auf dem Glatteis auszubrechen, aber Paul bekam ihn in den Griff und fuhr schneller. Besorgt ließ er den Blick hin und her schweifen. Nachdem er in den Feldweg eingebogen war, stoppte er, stieg aus dem Wagen und legte die Hände auf den Boden. Ihr gehetzter Gang vibrierte an seinen Handflächen nach, ihre Angst und der Hass bedrückten ihn, denn beides vermischte sich zu einem gefährlichen Cocktail, der im Laufe der Zeit explodieren würde. Ciara aber war sich der Konsequenzen noch nicht bewusst – genauso wenig, wie er damals.
Schon von Weitem hatte sie das Motorengeräusch von Pauls Wagen vernommen und sich in dem Hof des verlassenen Hauses versteckt. Dort hatte sie die Pause genutzt und sich Wollsocken über ihre Stiefel gezogen.
Nachdem Paul vorbeigefahren war, rannte sie zwischen Unkraut und Taubenkot aus dem verwucherten Garten hinaus, den Weg hinab und den Bürgersteig entlang. In ihre Gedanken pflanzte sie sich den ›Kurzfilm‹ ihrer Flucht zum Bahnhof – der entgegengesetzten Richtung. Denn sie wusste, Paul würde versuchen, sie auf diese Weise zu orten. Das Visualisieren beherrschte sie schon als Kind perfekt. Jetzt aber wuchsen ihre Vorstellungskräfte in einer ungeahnten Geschwindigkeit an und Ciara benutzte sie ohne jegliche Anstrengung.
Zielstrebig marschierte sie geradeaus, mehr und mehr wurde ihr bewusst, dass dem Kokon, der sie jahrelang geschützt hatte, in der Nacht ihres neunzehnten Geburtstags ein tiefer Riss zugefügt worden war.
Es sollte nicht mehr lange dauern, das spürte sie, bis ihre wahre Gestalt aus der Hülle schlüpfte und sich entfaltete. Sie befürchtete jedoch, dass sie sich nicht als schöner Schmetterling entpuppen würde, sondern als hässlicher, grauer Nachtfalter. Und nur einer Person gab sie die Schuld daran: dem Mann, der sie in der Nacht, in der sie im Licht des Vollmondes ihren Geburtstag hatte feiern wollen, überfallen und vergewaltigt hatte.
Ihre sensiblen Sinne vernahmen sein lautloses, höhnisches Lachen. Sie atmete den Gestank seiner Hand ein, die er ihr so fest auf den Mund gedrückt hatte, dass ihre Lippen aufgesprungen waren. Erneut schmeckte sie Blut auf der Zunge.
Keuchend wischte sie sich mit dem Ärmel über den Mund. Doch der Stoff blieb sauber. Die Erinnerung presste ihr die Luft aus den Lungen. Panisch umherblickend lehnte sie sich in den Schatten einer Hauswand. Von Neuem überwältigte sie die Lähmung, als bohre er ihr das Messer noch einmal in die Taille. Sie schloss die Augen, doch in ihrem Kopf erlebte sie die Nacht ein weiteres Mal: Mit einem zweiten Messer zerschnitt er ihre Jeans – Stück für
Weitere Kostenlose Bücher