Ciara
Zwei Häuserblocks weiter schloss er die Haustür auf und stieg die Stufen bis zu seiner Wohnung empor, die sich unter dem Dach des fünfstöckigen Hauses befand.
Seine Jacke hängte er ordentlich an den Kleiderhaken. Es fröstelte ihn. Bevor er sich in der Küche einen Kaffee kochte, drehte er die Heizung im Wohn- und Schlafraum hoch und schaltete den Rechner an.
Nach wenigen Minuten wählte er sich ins Internet und tippte
Google
in das Adressfeld ein.
»Warum willst du dich dieser Qual aussetzen, ihm Auge in Auge gegenüberzustehen?«, fragte Paul.
Über eine Stunde hatten sie schweigend nebeneinander am Küchentisch gesessen und irgendwann nebenbei die Reste des Frühstücks weggeräumt. Doch Ciara war froh, dass Paul endlich etwas sagte. Noch länger hätte sie die Stille nicht ausgehalten.
»Ich brauche Antworten. Die Ungewissheit zerfrisst mich innerlich. Seit diesem Tag ist etwas in mir zerstört und etwas anderes neu geboren worden, und ich will verstehen, warum.«
»Und wenn er dich tötet?«
Ciara erschrak kurz, doch diese Möglichkeit wies sie von sich: »Er hatte die Gelegenheit und hat sie nicht genutzt, er wird es auch diesmal nicht versuchen.«
»Oder sich beim zweiten Mal diese Chance nicht mehr entgehen lassen«, mahnte Paul.
»Hör auf!«, Ciara schnellte hoch, schob den Stuhl zur Seite und wanderte in der Küche auf und ab.
»Ciara, das ist Wahnsinn.«
Sie blieb stehen und starrte auf einen Krümel, der auf dem Tisch lag. »Seit dem Tod meiner Mutter gab es keine Richtung, kein Gefühl mehr in meinem Leben, aber jetzt verspüre ich Hass und Wut und Rachelust, und ich will Antworten. Er ist dazu verpflichtet, sie mir zu geben.« Der Brotkrümel begann leicht zu vibrieren. Ciara starrte vorwurfsvoll zu Paul, als sei er an allem schuld. Sein Blick wanderte zwischen ihren Augen und Lippen hin und her.
»Hör auf damit!«
»Was?« Paul schien für den Bruchteil einer Sekunde irritiert.
»Schau nicht ständig auf meinen Mund.«
»Ich kann dir nicht in die Augen sehen, du hast doch erlebt, was dann passiert!«
»Versuche es doch!«
»Du bist verrückt, du bist unvernünftig und du führst dich auf wie ein kleines, bockiges Kind.« Ciara wusste, dass er recht hatte, hätte dies aber nie zugegeben. Es ärgerte sie, dass Paul so ruhig blieb.
»Na und? Was habe ich denn zu verlieren?«
»Dein Leben?«
Wütend fegte Ciara mit der Hand ein Glas vom Tisch, das auf dem Boden klirrend in Scherben zerbarst. »Was für ein Leben denn? Was ist das, wenn du nicht weißt, wer du bist? Wenn du in Angst leben musst. Nein. Ich lasse mich von so einem Schwein nicht kleinkriegen. Das hast du selbst gesagt.«
Äußerlich unbeeindruckt sagte Paul leise: »Du hast recht.«
»Was?« Ciara glaubte, sich verhört zu haben.
»Du hast recht«, wiederholte Paul. »Wenn du darin deine Bestimmung siehst, dann solltest du den Weg einschlagen, egal, wohin er dich führt.«
»Wie alt bist du wirklich?«, fragte Ciara.
Paul schaute sie überrascht an: »Du bist in mein Gehirn eingedrungen?!«
»Spürst du das nicht?«
»Dafür bist du mir längst zu überlegen, obwohl du es selbst noch nicht weißt. Du schleichst dich in meine Gedanken, ohne dass ich es merke.« Paul schüttelte den Kopf und lächelte dabei.
»Woher weißt du das alles?«
»Ich weiß nicht alles, ich kann dir einiges sagen, aber nicht die Antworten geben, die du suchst. Und ich spüre deine Magie, deine Kraft, deine Sensibilität, deine Gefühle – sie sind wie ein Orkan und werden im Laufe der Zeit so stark werden, dass du wie ein Hurrikan mit deinen Gedanken eine Stadt wegfegen kannst.«
Nun war es Ciara, die den Kopf schüttelte. »Das ist Unfug. Sag mir, wie alt du wirklich bist!«
Mit seinen Blicken erkundete Paul nach und nach ihr Gesicht, bis er jede Sommersprosse, jede Pore, jeden Millimeter ihrer Haut erfasst haben musste, und erklärte dann: »Ich bin in dieser Form so alt, wie es in meinem Pass steht, aber Teile meiner Seele sind uralt – allerdings nicht so alt wie deine.«
»Meine? Was heißt das – meine? Wie alt soll ich sein?«, fragte Ciara.
»Auch das wirst du eines Tages selbst herausfinden müssen. Die Liebe deiner Mutter hat dich daran gehindert, dich früher zu entfalten. Sie hatte Angst um dich.«
Ciara seufzte, verbarg für Sekunden den Kopf in den Händen, schaute anschließend Paul ins Gesicht – jedoch nicht in die Augen – und setzte sich ihm gegenüber. Sie würde ihm von sich erzählen. Vielleicht
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