Ciara
würde er dann verstehen, dass sie nicht die sein konnte, für die er sie anscheinend hielt.
»Wir haben zurückgezogen gelebt, in unserer eigenen Welt. In der Schule war ich der Außenseiter. Abreagiert habe ich mich beim …« Das breite Grinsen auf Pauls Gesicht stoppte Ciaras Redefluss. »Warum grinst du so blöd?«
Jetzt lachte Paul laut auf. »Entschuldige. Du hast viel gelesen, kaum ferngesehen und so was wie Ju-Jutsu oder Taekwondo gelernt?«
Ciara nickte. »Ju-Jutsu nicht. Das war mir zu brutal. Aber nach Taekwondo habe ich Tai-Chi und Aikido gelernt. Mir gefällt der Ausgleich. Sogar Sumo habe ich ausprobiert.«
Er grinste. »Du bist eine Sumoringerin? Das glaub ich nicht.«
»Ich war nie gut genug, mir fehlten gewisse körperliche Fettanteile, die ich mir auch nicht anfressen wollte. Außerdem mochte ich die Art der körperlichen Berührungen nicht.«
»Du musst früh begonnen haben.«
»Mit zwei Jahren schleppte mich meine Mutter zu einem Privatlehrer, der mich in die verschiedenen Kampfsportarten einwies. Ich habe erst vor einem Jahr aufgehört.« Ciara konnte sich nicht erinnern, jemals darüber gesprochen zu haben. In den Schulpausen war sie meist allein geblieben. Sie hatte ihre Mitschüler gemieden, obwohl einige darunter gewesen waren, die gern mit ihr in Kontakt gekommen wären. Doch sie hatte die Einsamkeit vorgezogen.
Dieses Gespräch stellte eine neue Erfahrung für sie dar. Sie lehnte sich zurück, faltete die Hände in den Schoß.
»Welchen Dan hast du erreicht?«
»Keinen. Ich habe die Prüfungen nie abgelegt. Mir erschien ein Abzeichen nicht wichtig. Ich wusste, wozu ich in der Lage war, und das genügte mir. Und du?« Sie erforschte mit ihrem Blick seine Lippen.
»Ein wenig Karate, dann Ju-Jutsu, Aikido und Taekwondo. Keine Ränge erreicht.«
»Warum nicht?«
»Die Wettkämpfe fanden grundsätzlich am Tag statt. Damals keine gute Zeit für mich.«
Sie schwiegen. Dann rief Paul aus: »He, wir können ja mal gegeneinander antreten.«
Ciara versuchte zu lächeln. »Vielleicht, wenn die Suche ein Ende hat. Ja!«
»Die Suche nach deinem Ich wird niemals ein Ende finden, Ciara.«
»Woher willst du das wissen?«
»Du weißt es auch, du lässt dieses Wissen nur nicht zu.«
Ciara legte die Hände auf den Tisch und schaute zur Tür, wo das Frettchen soeben auftauchte, auf sie zusteuerte, an ihr emporsprang und sich auf ihrem Schoß niederließ. Nachdenklich streichelte sie über das dichte Fell. »Sag mir, Paul, wie ähnlich sind wir uns?«
»Du hast mir einiges voraus.«
»Meine Mutter hatte das sicherlich, aber mein unbedeutendes Wissen …«
»Nein«, unterbrach er sie. »Du weißt mehr als sie, mehr als ich, mehr als jeder auf dieser und anderen Welten. Nur schlummert es noch tief in dir und wird erst nach und nach erwachen. Und das, was du noch nicht weißt, kannst du dir beschaffen. Auf welche Art und Weise, wirst du bald herausfinden.«
Ciara fuhr sich mit der Hand durch die langen Haare. Es verwirrte sie, dass Paul so viel von ihr hielt, so viel mehr in ihr sah als sie selbst.
»Warum haben wir uns getroffen? Ausgerechnet jetzt?«
Ein sanftes Lächeln umspielte Pauls Lippen: »Alles hat seinen Grund. Ich bin dein Mentor, dein Lehrer, dein Babysitter, dein Schicksal – bis zu einem gewissen Punkt.«
Wieder trat eine lange Pause ein, in der keiner etwas zu sagen wusste. Ciara dachte über Pauls Worte nach. Sie zuckte leicht zusammen, als ihr klar wurde, was seine Prophezeiung bedeuten könnte. »Bis zu welchem Punkt?«
Abrupt sprang Paul von seinem Stuhl auf. Seine Gesichtszüge verwandelten sich, schienen von in Stein gemeißelten Furchen durchzogen zu sein und wirkten so alt und grau, wie seine Seele sein musste. »Wir werden es spüren«, sagte er monoton.
Ungeschickt stocherte Mike mit den Zeigefingern auf der Tastatur herum und tippte auf diese Weise nacheinander drei Suchbegriffe ein.
Über Ciara Duchas erhielt er im Internet keine Informationen. Aber unzählige Seiten beschäftigten sich mit der Erbkrankheit Xeroderma pigmentosum. Das Suchergebnis speicherte er unter Favoriten, um die Berichte später zu studieren. Sein größeres Interesse galt Paul Philis’ Vergangenheit, über die tatsächlich einige wenige Seiten im Netz existierten.
Ein fremdes Geräusch an der Wohnungstür hinderte ihn daran, die Website der Universität, die Paul besucht hatte, aufzurufen. Seine Finger erstarrten in ihrer Bewegung und hingen ziellos über der Tastatur. Er
Weitere Kostenlose Bücher