Circulus Finalis - Der letzte Kreis
ich weglaufen wollte von zu Hause – er hätte mitkommen wollen, darin war ich mir sicher. Vielleicht hätte er mir Bilder gemalt. Und ich, ich hätte ihm gerne Rätsel aufgegeben, die ihn zu irgendeinem kleinen Geschenk führen sollten. Hätte geheime, hintergründige Hinweise versteckt im ganzen Haus an Regentagen, und wenn er dann alt genug gewesen wäre, auch draußen, zwischen den Bäumen und im nahen Moor. Mit langen Brettern über den Tümpeln voll brackigem Wasser hätte ich ihm Wege gebaut, nur für ihn hätte ich Schöpfer einer kleinen Welt sein wollen: Doch dazu kam es nicht. Statt dass es gelang, zumindest in einem begrenzten Rahmen Ereignisse geschehen zu lassen und Rätsel zu stellen, waren es die Ereignisse, von denen man überformt wurde wie eine arktische Landschaft unter dem Druck des Eises, und es waren die Geschehnisse, die uns Rätsel aufgaben. Sie schlugen Kerben, Lücken, die zu schließen uns nicht möglich war.
Das Gelände der Universitätsklinik war weitläufig, mit verstreuten Ziegelbauten und großen, moderneren Gebäuden; dazwischen Grünflächen und bereits kahle Bäume. Wir gingen entlang gepflasterter Wege mit der leeren Trage zurück zum Auto, da rief jemand meinen Namen. Obwohl ich sie seit mehr als fünfzehn Jahren nicht gesehen hatte, erkannte ich sie sofort: Hanna, wie eine Erscheinung.
Wir hatten nie viel Kontakt gehabt. Sie ging in eine Parallelklasse, trotzdem kannte ich sie. Jeder kannte sie. Sie war die Art Schü lerin gewesen, wie man sie sich fast nicht vorstellen kann: Immer mit einem Lachen in den Augen, jedes Unterrichtsfach fiel ihr leicht, sportlich und schlank, musikalisch, Dritte beim Vorlesewettbewerb; trotzdem nie verbissen, nie eingebildet, gleichermaßen beliebt wie bewundert, geschont selbst von denen, die sonst an niemandem etwas Gutes ließen. Es war, als sei sie aus einem anderen Stoff gemacht.
Vielleicht war es ein Stoff, der sich mit irgendetwas nicht vertrug; dem Wachstum, dem Erwachsenwerden. Mit achtzehn Jahren, kurz vor dem Abschluss, verschwand sie aus der Schule. Man hö rte etwas von einer Erkrankung, starken Schmerzen. Ich sah sie nicht wieder.
Jetzt stand sie da, schien kaum ä lter geworden zu sein, mit einer großen Umhängetasche und ihrem alten Lächeln, und ich suchte nach einem Zeichen von Leid, aber abgesehen von ihrer nach wie vor sehr schlanken Erscheinung sah sie aus wie das genaue Gegenteil von Krankheit. Ich schüttelte den Kopf, voller Verwunderung, dass sie mich erkannt hatte.
Sie fand die richtigen Worte, und schon war ihr Termin um eine Stunde verschoben. Eine Kernspintomographie, nicht angenehm, sagte ich noch, aber sie zuckte nur mit den Schultern.
Sie trug eine helle Leinenbluse, ich die schon leicht verschmutzte Uniform, und als wir aus dem Ziegelgebä ude traten, war mir höchst merkwürdig zumute: die unzeitgemäße Wärme der Sonne an diesem Novembertag, die Gedanken an die Mutter mit ihrem Ungeborenen, das jetzt an dieser Grenze stand, die mein Bruder Simon nur kurz überschritten hatte; Hannas Lachen, das sich in den letzten zwanzig Jahren nicht geändert hatte. Die Zeit hatte eine andere Konsistenz: Ich sah den Moment vor mir, in dem ich von Simons Tod erfuhr, und zum ersten Mal begriff, was unumkehrbar bedeutet; den Moment, der die Welt mit einer weiteren Lage ihrer Verkleidung aus durchsichtiger Plastikfolie versah. Erinnerte mich, wie die Trauer meiner Eltern mich umgab, ohne dass ich sie mindern oder auch nur in gleicher Weise teilen konnte, und wie ich mit kindlicher Nüchternheit überlegte, dass ein unser aller Leben im gleichen Moment beendender Verkehrsunfall wohl das einzige sei, dass uns vergleichbaren Kummer in der Zukunft ersparen konnte. Ich glaube, der Gedanke begleitete mich über Jahre, wann immer wir alle gemeinsam unterwegs waren.
Mit Hanna ging ich zum Auto; sie hakte sich ganz selbstverständlich bei mir ein. Anska zeigte sich unbeeindruckt, bot aber an, alleine aufzuräumen und sauberzumachen, während wir uns vor der Kantine des Krankenhauses in die Sonne setzten. Zwanglos erzählte sie, warum sie hier sei, Routinekontrolle; all die Jahre über habe sie Kopfschmerzen gehabt. Sie lächelte über die scheinbare Banalität dieses Symptoms, lächelte auch, während sie fortfuhr: Nicht durchgehend, aber immer wiederkehrend, schwerste Anfälle, durchwachte Nächte, bisweilen Ausfälle von Sensorik und Motorik, vereinzelt bis zur Bewusstlosigkeit. Ich suchte nach Anzeichen für dieses Leiden,
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