Circulus Finalis - Der letzte Kreis
üblicherweise gar nicht gestattete.
Es war ein besonderer Abend. Wir kochten Spaghetti, nicht gerade ausgefallen, aber etwas mit Substanz. Terroranschlag am Nil, eine noch nicht zu beziffernde Zahl von Touristen unter den Opfern, Programmänderung nach den Nachrichten. Alle paar Wochen irgendein Brennpunkt mit Diskussionsrunde, sagte Anska, früher gab’s das nur, wenn etwas wirklich Weltbewegendes geschah. Wir schalteten aus. Im Schrank unter dem Fernseher, den ich noch nie näher angeschaut hatte, entdeckte Hanna zielsicher ein paar alte Spiele, und wir spielten erst Malefiz, dann Scrabble; etwas, das ich mehr als zwanzig Jahre nicht mehr getan hatte. Alle Fahrzeuge standen auf den jeweiligen Wachen, die Funkmelder schwiegen. Wenn ich an diesen Abend zurückdenke, kommt es mir vor, als sei er von einem eigenen Licht erhellt, wie von vielen Kerzen. Ein weiches Licht, das ein wenig flackert, und von dessen Vergänglichkeit man weiß: Schon ein Luftzug, und es erlischt.
Irgendwann gegen elf Uhr schon bemerkten wir, wie erschöpft Hanna aussah. Sie wirkte bleich, noch durchscheinender als zuvor, und Anska und ich begannen uns Gedanken zu machen, ob und wie wir sie noch nach Hause bringen konnten. Gegenwärtig lebte sie bei einer Freundin, mehr als eine Stunde südwärts von hier, wie sie uns erzählt hatte, in der Nähe der ehemaligen Hauptstadt. Sie selbst kannte keine Sorge, eine Lösung würde sich schon finden. Und natürlich hatte sie recht: Im Untergeschoss gab es einen kleinen Schlafraum mit einem schmalen Etagenbett, das manchmal tagsüber von den Krankenwagen-Besatzungen verwendet wurde; wir mussten Hanna nur bitten, bis zum Morgen, wenn die Kollegen ihren Dienst antraten und auch irgendwann Lambertus erscheinen würde, das Feld zu räumen. Anska, mit dem Blick für die Details, ließ sie noch eine Beitrittserklärung unterschreiben, für den Fall, dass das Gebäude einstürzen oder abbrennen sollte, und die er vernichten wollte, falls das befürchtete Unglück doch nicht eintrat. Nur für die Versicherung.
Kurz nach Mitternacht schaute ich nach ihr, und sie zog mich zu sich ins Bett, sah mich einen Moment lang, völlig klar an, war dann wieder weit fort. Mein Herz schlug schnell, an Schlaf war nicht zu denken. Nach vielleicht einer Stunde wachte sie wieder auf, und wir begannen, zu reden, leise. Wer so lange und ohne erkennbaren Grund, ja sogar ohne erkennbare Ursache schwerem Leiden ausgesetzt ist, wie Hanna es war, der hätte allen Grund, die Welt als einen willkürlichen Ort zu begreifen, in der ohne Sinn und Verstand gegeben und genommen wird. Bei ihr war es das Gegenteil. Jemand anders hätte vielleicht gesagt, dass unsere Begegnung kein Zufall gewesen sei; sie aber sagte nichts dergleichen. Sie war der Überzeugung, es gäbe gar keinen Zufall. Während sie sprach, strich sie mir leicht über die Wange. Nach einer Weile schliefen wir beide ein.
Gegen fü nf Uhr löste der Funkmelder aus, sie öffnete kaum die Augen und gab mir, bevor ich aufstand, einen Kuss auf die Wange. Eineinhalb Stunden später waren wir wieder da: Nichts mehr, das Bett gemacht, keine Spuren. Unwillkürlich musste ich schlucken. Eine Telefonnummer oder Adresse hatte sie nicht hinterlassen, und mein Gefühl sagte mir, dass ihre Vorstellung von dem, was Verständigung bedeutet, für meine Begriffe ungewöhnlich war. Ich befürchtete, ich würde sie nie wieder sehen. Nicht aus medizinischen Gründen; sie lebte schon so lange mit ihrem Leiden. Mir schien viel mehr die Gefahr zu bestehen, dass ihre Transparenz mehr und mehr zunehmen könnte, bis sie zumindest für mich ganz und gar ungreifbar wäre.
10
Auf Besuch oder eine Nachricht von Hanna wartete ich in der Zeit vor Weihnachten in der Tat vergebens und versuchte mir dabei nicht einzugestehen, dass ich überhaupt darauf wartete. Es gelang mir nicht, die Adresse ihrer Freundin ausfindig zu machen; ich hatte nur eine ungefähre Vorstellung davon, wo sie wohnte. Jedes Wort, das Hanna gesagt hatte, versuchte ich mir in Erinnerung zu rufen; alles, was helfen konnte, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Aber so kam ich ihr nicht näher. Viel hatte sie nicht gesagt, und vielleicht hatte ich auch nicht gut genug zugehört.
Auch wusste ich nicht genau, was meine Erwartungen waren. Fü r andauernde Liebe zwischen einer Frau und einem Mann fehlte es an Beispielen aus der Gegenwart meiner Umgebung; ein Großteil der mit diesem Ideal verbundenen Vorstellungen wurde an der Kinokasse erworben.
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