Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Titel: Circulus Finalis - Der letzte Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tarek Siddiqui
Vom Netzwerk:
nach dunklen Schatten unter den Augen oder einer Verkrampfung der Züge um den Mund, aber wenn es etwas gab, dann, dass sie fast durchscheinend wirkte; in manchen Augenblicken meinte ich beinahe, das Ziegelmuster der sonnengewärmten Wand, an der sie lehnte, durch sie hindurch zu erkennen.
    Trotz meiner Tä tigkeit war es für jemand wie mich, der kaum jemals mehr erlebt hatte als eine Magenverstimmung oder eine Erkältung, fast nicht vorstellbar, solches Leid zu ertragen und dabei so sehr man selbst zu bleiben. Dazu die unzähligen Untersuchungen, mit allen der Schulmedizin zu Gebote stehenden Mitteln: Computertomographie, Magnetresonanz, Kernspin, EEG, Schlaflabor. Die Medikamente, Suche nach psychischen Ursachen, die verschiedenen Krankenhäuser und Ärzte, die verzweifelten Eltern; schließlich ein halbes Jahr Psychiatrie. Alternative Heilmethoden, Homöopathie, Hypnose, alles ohne Erfolg. Kein Sport mehr, kaum Musik; lesen nur in den guten Stunden, und selbst dann ein Tanz der Buchstaben vor den Augen. Wenn der Schmerz kommt, wird gleichzeitig alles durchsichtig, die Dauer der Zeit hört auf, von Bedeutung zu sein, es zählt nur noch der Zustand, durch den hindurch sie andere Zustände sieht: Glückliche Tage, Träume, unendlich fern. Die Erschöpfung des Körpers von den krampfartigen Schmerzen, die Frage danach, was noch bleibt vom Leben. Zu manchen Zeiten hätte sie sich irgendeine Art von Klarheit gewünscht, irgendeine Diagnose, und sei es auch eine unheilbare Art von Krebs. Schließlich, nach fast zehn Jahren, eine leichte Besserung. Die Anfälle werden seltener, ihre Intensität lässt nach. Es gibt ganze Wochen fast ohne Beschwerden. Ein Grund ist nicht erkennbar.

    Anska kam schnellen Schrittes heran. Zwar waren wir weit außerhalb unseres Einsatzgebietes, aber die Leitstelle hatte nachgefragt, wie lange es denn noch dauern würde; von fünf Fahrzeugen seien vier im Einsatz. Er zuckte entschuldigend die Schultern, das warme Wetter wahrscheinlich. Ich sprang auf und drückte ihm die als Dank besorgte Papiertüte mit den beiden Amerikanern in die Hand, dick mit Zuckerguss glasierten, runden und gar nicht so kleinen Kuchen, die er oft und gerne aß, obwohl sie jedem normalen Menschen eigentlich zu süß sein mussten. Wir wechselten die Fahrtenscheibe und ich nahm hinter dem Lenkrad Platz, damit Anska sich ungestört seiner Zwischenmahlzeit widmen konnte. Der Abschied von Hanna war überstürzt, und ich hatte ein unglückliches Gefühl dabei, aber sie lachte nur und drückte mich.

    Abends, heimkehrend nach einer Fehlalarmierung, sahen wir sie in die kleine Stichstraße einbiegen, die zu unserer Wache führte, zu Fuß, mit ihrer Umhängetasche. Sie hatte den Zug genommen, und ich war über alle Maßen verwundert: Schließlich wusste sie kaum mehr, als dass unsere Wache eine von mehreren in der Chemiestadt war. „Wie hast du uns gefunden?“, fragte ich sie verblüfft. Sie lächelte ihr Lächeln von früher, das die Jahre der Schmerzen unbeschadet überstanden hatte: „Ich habe gefragt!“
    Sie legte die Stirn in Falten. „ Irgendwie fühlte es sich nicht richtig an, dass wir uns so schnell wieder trennen mussten. Da bin ich dir nachgefahren.“
    Etwas Derartiges hatte lange niemand mehr getan.

    Es wurde ein besonderer Abend. Ich hatte ihr in einem Nebensatz von Anskas Leidenschaft fü r Flugunglücke erzählt; es war die Art Bemerkung, die man macht, um eine Pause zu füllen, und die einen Moment später schon wieder vergessen war. Sie hatte es sich gemerkt, und in einem Antiquariat ein umfangreiches, englisches Buch aufgetrieben, das psychologische und physiologische Faktoren behandelte, die bei Unfällen in der Luftfahrt eine Rolle spielten. Als Dank für die geschenkte halbe Stunde am Nachmittag, wie sie sagte. Er war begeistert, und setzte sofort zu einer Kostprobe seines enzyklopädischen Wissens an. Sie hörte zu, nicht aus Höflichkeit, sondern ganz und gar, zu jeder Zeit vollständig im Augenblick aufgehend. Dann wieder schien sie sich durch die Zeit zu bewegen, glich so sehr der zuhörenden Schülerin, die ich flüchtig kannte, vor ihrer Erkrankung. Wieder das Gefühl, dass sie etwas Transparentes an sich habe, und dass für sie die Welt zu einem gewissen Grad transparent war, dass es hinter den Dingen für sie immer etwas anderes zu erkennen gab. Selbst mich ließ das nicht kalt. Mit Verwunderung bemerkte ich, dass ich Anskas Worten in einer Weise folgte, die mir sonst fremd war, die ich mir

Weitere Kostenlose Bücher