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Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Circulus Finalis - Der letzte Kreis

Titel: Circulus Finalis - Der letzte Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tarek Siddiqui
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taten, fuhr meistens er, denn er war ganz einfach besser darin. Die Kollegen spotteten, dass er nur eine einzige Geschwindigkeit beherrsche – fünfundsiebzig Stundenkilometer, egal ob Autobahn oder Innenstadt – aber die Abmessungen des Autos kannte er wie kein Zweiter. Er wäre vielleicht gerne Pilot geworden, jedenfalls besaß er ein enzyklopädisches Wissen über die Flugzeugkatastrophen der letzten fünfzig Jahre. Wann immer wir gemeinsam Dienst taten, quälte er mich mit irgendeiner Flugunfalluntersuchung, so als sei es ein Spiel, ein technokratisches Rätsel. „Was ist die Ursache? Wie konnte das passieren?“
    In der Dichtung reicht meist ein ein ziger Anlass, ein einfacher Grund, als Rechtfertigung für das Geschehen; in der Wirklichkeit ist es hingegen eine Kette, nein, ein Geflecht von Vorbedingungen, das den Ereignissen vorausgeht.
    Ich fand mich oft mit Anska eingeteilt, und wenn er mir keine R ätselfragen stellte, kamen wir gut miteinander aus.

    Mensch in Not, wie es heißt, in der Fußgängerzone, Modegeschäft Hölzl. Es ist Mitte November, ich habe mich eingelebt und eingerichtet auf der Wache. Kenne alle, die ich kennen muss; auch die Zufahrten zu den Krankenhäusern, die verkehrsbedingten Engpässe, die Ausstattung unseres Rettungswagens und die Vorlieben der meisten Notärzte.
    Anska lö st die Handbremse, ich bestätige der Leitstelle unsere Ausfahrt. Mit gewagtem Tempo über das phantasielose Muster der Gehsteigplatten. Es ist Freitag, ein ungewöhnlich warmer Tag für November: Knapp zwanzig Grad lassen sich am Thermometer ablesen, aber dessen ungeachtet schreitet der Aufbau von Hütten und Ständen für den Weihnachtsmarkt in der Fußgängerzone voran. Beinahe fällt ein Weihnachtsbaum uns vor das Auto, eine Hand zieht ihn im letzten Augenblick zurück. Anska gibt unbeirrt Gas, den Abstand des Fahrzeugs von den vorspringenden Dächern der ersten fertig gestellten Hütten zentimetergenau einschätzend. Wie macht er das nur.

    Im Geschäft kehrt dann erst mal Ruhe ein. Unsere Patientin ist schwanger, und bis zum Geburtstermin kann es nicht mehr lange dauern. Der Kreislauf, wie sie sagt, eine kurze Ohnmacht; sitzt aber bereits wieder, alles bestens. Blutdruck und Puls bestätigen das, der Notarzt wird abbestellt. Wir versuchen trotzdem, sie zu einer Routineuntersuchung im Krankenhaus zu überreden, aber sie will nicht, zu viel zu tun. Sie strahlt Sicherheit und Wohlbefinden aus. Ich mache noch einen letzten, halbherzigen Versuch, habe eigentlich schon aufgegeben, da sagt sie: Okay. Wir liefern sie im städtischen Krankenhaus ab.

    Zwei Stunden später liegt sie wieder bei uns im Wagen, Tränen auf den Wangen, Blut in ihrem Schoß. Ihr Mann hilflos daneben, unser Fahrtauftrag die schnellstmögliche Verlegung in die eine halbe Stunde entfernte Universitätsklinik, wo sie wegen ihrer Schwierigkeiten, ein Kind zu empfangen, in Behandlung war. Ich stelle mir die im Überschwang der Vorfreude angeschafften Dinge vor: Namensbücher, Strampler, Einrichtung für ein Kinderzimmer, Kuscheltiere. Es ist merkwürdig, dass ich den Umweg über Dinge benötige, um das Leid für mich greifbar zu machen.
    Anska fä hrt wie üblich sein generisches Allzwecktempo, ich klopfe an die Scheibe, er versteht und beschleunigt. In einer Mischung aus Hoffnung und Entsetzen übergeben wir das Paar der Obhut des Arztes in der gynäkologischen Ambulanz. Sie bedanken sich überschwänglich, er fingert nach seiner Brieftasche – wir nehmen Reißaus.

    Ich hatte lang nicht mehr an Simon gedacht, der für eine kurze Weile die Grenze zum Leben überschritt, und den ich nie kennen gelernt habe. Meinen jüngeren Bruder, der an Komplikationen scheiterte, schon bevor er seinen ersten Atemzug hätte tun können; ich stellte mir vor, dass er noch im Leib meiner Mutter auf eine sehr erwachsene Art abwinkte und die Entscheidung traf, sich dieser Welt nicht ausliefern zu lassen.
    Wir sprachen so gut wie nie von ihm. Ich drü ckte meiner Mutter den Arm an seinem Geburts- und Todestag, irgendwann dann auch das nicht mehr. Manchmal stellte ich mir vor, er wäre bei uns geblieben. Das wäre auf Kosten meiner Nerven gegangen, keine Frage. Ich schämte mich nicht dafür, dass das mein erster Gedanke war, es war nur realistisch. Wir hätten viel gestritten, er hätte mich regelmäßig mit seiner ganzen kindlichen Energie gequält, während ich stets Rücksicht nehmen musste und ihm nicht angemessen antworten durfte. Und doch, in der Zeit, als

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