Circulus Finalis - Der letzte Kreis
befinden, bei der Bestrafung nach irgendeiner kindlichen Untat. Es war tatsächlich die Tat eines Kindes, die mich hierher gebracht hat: Eine überflüssige und überaus erfolgreiche Provokation, keiner Moral verpflichtet, Ergebnis einer gelangweilten Neugier.
Die Frage, was sie weiter vorhaben, stellt sich mir weniger oft, als man denken könnte. Mich hier einzusperren, war eine spontane Aktion mit dem Ziel, Schaden abzuwenden, und das ist ein fast schon versöhnlicher, akzeptabler Grund, auch wenn meine Sorgen einer anderen Art von Schaden gelten als jene meiner Gefängniswärter.
Meistens sind es eher organisatorische Details, die mich beschä ftigen: Was denken meine Eltern? Gibt es eine Vermisstenmeldung? Vermutlich nicht, sie sind es gewohnt, dass wir uns trotz der geringen Distanz manchmal wochenlang nicht hören oder sehen, und vermuten mich dann in einer Art Schutzreflex auf Seminaren und Schulungen, die ich niemals besucht oder gegeben habe.
Wer weiß alles von der Entführung? Mir wird zunehmend klar, dass es für meine Entführer umso schwerer wird, die Angelegenheit zu einem Ende zu bringen, je mehr Zeit verstreicht und je mehr Personen in irgendeiner Form involviert sind. Manchmal tun sie mir fast leid; sie befinden sich kaum weniger in einer Zwangssituation als ich.
Manchmal ü berkommt mich dann auch Angst. Metaphysische Überzeugungen rechtfertigen, ja fordern sogar Opfer, verkehren die Wertigkeiten, sind ihr eigenes Gesetz.
Wenn es mit dem Schreiben nicht vorangeht, obwohl die Erinnerungen mich unsortiert bedrängen und zur Last werden, sobald ich die Augen schließe: Dann wende ich mich der Längswand des Raumes zu, um die Bilder loszuwerden. In der Kiste mit den Büchern befinden sich zwei unvollständige Blechschachteln mit Wachsmalstiften; seit beinahe dreißig Jahren habe ich dergleichen nicht in der Hand gehabt, und ich vermute, dass sie das Kind irgendeines Kollegen jetzt nicht sehr vermisst.
Ich begann an der Stirnseite des Raumes, wo die Fliesen in Hü fthöhe enden: Malte in Verspottung meiner Abneigung gegen das Reisen ein alptraumhaft kitschiges Palmenposter, und auch die Reißzwecken und ein Eselsohr vergaß ich nicht. Dann über das metallene Krankenhausbett ein Bild mit Rahmen, eine dalineske, holzbeinige Gestalt, die mich an die Zahnarztwartezimmer meiner Kindheit erinnerte. Schließlich noch einen Fernseher auf einem hölzernen Tisch, einen Sony. Das Programm ist immer gleich, Skispringen.
Damit war meine farbige Phase beendet. Zum Glü ck gab es mehrere schwarze Stifte, mit denen ich die noch leere Längsseite des Raumes zu bearbeiten begann. Hier reichten die Fliesenquadrate bis zur Decke; die Fugen wiesen meine Zeichnungen in ihre Schranken und brachten sie auf ein einheitliches Format.
Anfangs hatte ich die Befü rchtung, meine Wärter könnten bei einer Zellenbesichtigung meine Wandmalereien betrachten und daraus Schlüsse ziehen, die vielleicht alles noch schlimmer machten, aber bald zeichnete ich ungehemmt. Es sah ohnehin nicht so aus, als würde irgendjemand außer mir das Ergebnis so bald zu Gesicht bekommen.
Ich war nicht gut darin, wurde aber besser. Was misslang, wusch ich wieder von den blassen Fliesen, aber manchmal ergab sich aus einem ungelenken Versuch, den ich schon wieder vernichten wollte, durch ein paar zusä tzliche Striche etwas, zu dem ich eine Beziehung herstellen konnte.
Langsam wurden auch die Porträ ts besser, die ich an verschiedenen, augenscheinlich zufällig ausgewählten Stellen platzierte. Härting mit schmalem Lächeln, Metz mit einem senkrechten Strich als Stirnfalte. Nahe der Mitte der Wand ein Auge, der Pupillenkreis unterbrochen, eingefasst von zwei geschwungenen Linien. Wie konnte dieses Symbol, meine eigene Erfindung, Macht über mich erlangen?
9
Ich habe geschrieben, dass ich Ratespiele hasste; doch das stimmt nicht ganz. Eigentlich hätte ich sie mögen können, allerdings unter einer Voraussetzung: dass ich es wäre, der die Rätsel aufgibt.
Anska verstand das nicht; trotzdem mochte ich ihn. Er war ein paar Jahre jünger als ich, hieß, glaube ich, Robert mit Vornamen oder vielleicht Rüdiger. Er beschäftigte sich mit irgendetwas Mathematisch-technischem im Fernstudium und wälzte während der Dienste Unterlagen, mehr aus Pflichtbewusstsein seiner blass blonden Freundin gegenüber als aus Überzeugung, wie ich vermutete. Eigentlich schien er die Arbeit hier zu mögen, soweit man das sagen konnte. Wenn wir gemeinsam Dienst
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