Circulus Finalis - Der letzte Kreis
trotzdem spürte ich, dass sie mich liebte - auf ihre Weise, wie es mich im Nachhinein hinzuzufügen drängt. Ich glaube, es war eine ein- oder vielleicht zweimalige Sache: Doch begann damit eine abgründige Zeit. Vermutlich ließ sie mich indirekt an den Regungen ihres eigenen schlechten Gewissens teilhaben, indem sie über jede Nichtigkeit stritt, ständig ihre Pläne änderte, mich im Unklaren ließ, warten ließ, versetzte, dann wieder ihrer Liebe versicherte.
Die Vorstellung, wir seien in irgendeiner Weise fü reinander bestimmt, erwies sich als schwer zu überwinden. Ich glaube, mein Gedanke war einfach – diese Anziehung, trotz aller Differenzen und Enttäuschungen, das muss doch etwas zu bedeuten haben .
Aber nicht alles, was kurios ist, ist auch bedeutungsvoll. Nah waren wir uns nur noch, wenn ich von Trennung sprach und in ihr so etwas wie ehrliche Trauer darü ber erkannte, dass unsere guten Zeiten vorbei waren. Zu ändern war es nicht mehr.
Im Frühsommer zog ich sie in ein Café nahe dem Eingang der Universitätsklinik, wo wir verabredet gewesen waren und wo ich wieder einmal in Sorge auf sie gewartet hatte. Mir kam es so vor, als sei ich das ganze letzte Jahr über nur noch hinter ihr hergelaufen, ohne doch zu wissen, warum; meine Erinnerung bestand nur aus Fragmenten, wie von zerschnittenen Fotos. Ich sagte ihr, dass es vorbei sei. Sie nickte ruhig, das sei wohl besser so, und erzählte mir von ihrem Seitensprung. Es war mir völlig egal in diesem Moment, vielleicht, weil es so gar nicht überraschend war, oder auch, weil die Zeit danach so viel schlimmer gewesen war als die Tatsache an sich. Ich glaube, sie entschuldigte sich kurz, so wie man sich entschuldigt, wenn man jemandem auf den Fuß getreten hat. Es war überhaupt ein ziemlich emotionsloses Treffen.
Am Abend, als ich in Ruhe nachdachte, versuchte ich mich an das letzte halbe Jahr unserer gemeinsamen Zeit zu erinnern. Ein paar verwaschene Bilder von Bahnhö fen, so als habe sich unsere Beziehung auf der Durchreise abgespielt. Die Erinnerung kam nicht wieder, und vielleicht war das ganz gut so. Was bleibt und was nicht immer leicht zu ertragen ist, ist das Wissen, wie in dem was wir oder was andere tun, uns Weniges, und dazu zählt auch ein flüchtiges Abenteuer, das Minuten später schon wieder peinlich ist, oft unüberwindbar davon trennt, das Leben zu führen, das wir uns eigentlich erträumen.
Die Lü ge
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Es gibt so viele unterschiedliche Wertesysteme wie Interessengebiete, und jedes ist ein kleiner Mikrokosmos für sich. Das mag belustigen und erstaunen: Der größte Stolz des einen begründet die Verachtung des anderen. Ein Symptom für die zunehmende Fragmentierung der Welt, für die Fragmentierung in unseren Köpfen. Überall tun sich Klüfte auf, vertiefen sich, und was eine vielfältige Einheit sein könnte, zerspringt in unfruchtbare Schollen wie ein ausgedörrter Boden.
Meine Gefangenschaf t hier, zwischen den blass blaugrün gefliesten, fensterlosen Wänden ist eine Verkörperung dieses Zerfalls, des Bedürfnisses, die Welt zu verstehen, indem man sie in ihre Bestandteile zerlegt und bewertet, aussondert und katalogisiert; in sich gegenseitig ausschließende Kategorien einordnet. Den Anfang machte ich mit einer Lüge, die mir derart durchschaubar erschien, dass ich keinen Moment damit rechnete, jemand könne sie ernsthaft glauben. Aber so ist es halt, irgendjemand glaubt immer und handelt danach. Begreift sich als Fragment dieser Welt das durch seine Kenntnis und seine besondere Sicht der Dinge herausgehoben ist aus der Masse, und dessen Handeln anderen Gesetzen unterliegt und anderen Zwecken dient als das gewöhnlicher Menschen.
Diese Art Überzeugung trennt den Menschen unbedingt von all jenen, die sie nicht teilen. In den ersten Tagen im Keller versuchte ich, mich durch die Stahltür verständlich zu machen, schließlich schrieb ich Zettel und legte sie in die Klappe: Redet mit mir. Es ist alles eine Lüge. Noch ist nichts passiert. Aber das ist nicht wahr, wie ich weiß.
Die Antwort blieb aus. Die letzten Nachrichten ließ en sie einfach in der Klappe liegen, das sagt genug. Dort liegen sie seitdem, zunehmend überdeckt und unleserlich gemacht durch die Flecken verschiedenfarbiger Soßen.
Das Schreiben tut mir gut. Es macht die Wände durchlässig, entrückt mich dem monotonen Summen des Neonlichtes, erlaubt es meinem Geist, an andere Orte zu gelangen. Manchmal meine ich, mich im Haus meiner ersten Lebensjahre
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