Circulus Finalis - Der letzte Kreis
mit wenigen Schritten die Distanz zwischen den beiden Gruppen überbrückt und mit der Kraft seiner beiden verschränkten Hände, so, als schwinge er einen unsichtbaren Knüppel, den Kiefer seines größeren, breitschultrigen Opfers trifft. Dieses vollführt eine halbe Drehung und knickt nach hinten weg; auch der Fall erfolgte in Zeitlupe. Ganz unprätentiös scheint mir das vonstattenzugehen, geradezu unauffällig, so als fehle die Musik, die im Film üblicherweise die Handlung begleitet, und als wäre es ohne diese Untermalung schwierig, die passenden Emotionen zu entwickeln. Das Geräusch des Aufpralls meine ich mit einer Verzögerung wahrzunehmen, meine Wahrnehmung muss schneller gestimmt sein als der Schall. Erstaunlicherweise scheint niemand gewillt zu sein, Rache für den Schlag zu üben: Es gibt kaum eine Reaktion, nur stumme Blicke. Vielleicht ist die Überraschung zu groß, vielleicht hat der Täter sein Opfer gut ausgewählt, und niemand fühlt sich ihm verpflichtet.
All das geschieht in der ersten Minute nach unserer Ankunft. Wenige Augenblicke spä ter sind zwei Polizisten zur Stelle und trennen routiniert und beinahe heiter die Widersacher. Noch immer finde ich nicht heraus aus meiner mir nun schon lästigen, fast tranceartigen Distanz; es kostet Kraft, meine Aufgaben zu erfüllen, ohne mir etwas anmerken zu lassen.
Auch, als wir eine knappe Stunde später wieder auf der Wache in die Betten steigen, hat sich das Gefühl noch nicht vollständig gelegt. Vielleicht ist die vermeintliche Besserung nur ein Gewöhnungseffekt? Ich weiß, dass diese Sichtweise keiner logischen Betrachtung standhält, aber im Rückblick scheint mir, als hätte mit diesem Tag etwas begonnen, dass mich weiter und weiter von dem entfernte, was ich sein und tun wollte; ein finsterer Traum, aus dem aufzuwachen mir nicht mehr gelingen will.
Am Morgen erschien Natalia auf der Wache, um weitere Praktikumsstunden zu sammeln; pflichtbewusst und untadelig wie immer mit einem Frühstück, das sogar unseren persönlichen Geschmack berücksichtigte. Unter dem Arm trug sie den Gorgaß , das Standardnachschlagewerk der Notfallmedizin, und man wusste nicht recht: War das demonstrativer Eifer oder selbstvergessenes Interesse? Dazu ein dickes Schreibheft für eigene Notizen. Ich war mir sicher, dass irgendwo, vielleicht ganz am Ende, ein paar Seiten der Aufzeichnung von Eigenarten und professionellen Vorlieben jedes Kollegen vorbehalten blieben. Sie war, so vermutete ich, entschlossen, nichts dem Zufall zu überlassen, was sie beeinflussen konnte – ein ständiger, zäher Kampf gegen das Chaos, aber der Erfolg gab ihr Recht.
Ich fragte mich, wie jemand wie sie – so zielstrebig, so sachlich, so immun gegen jede Ablenkung – wohl den Circulus Finalis sehen würde. Sie musste davon gehört haben, aufmerksam, wie sie war, aber es fiel mir schwer zu erraten, wie sie darüber dachte. Wahrscheinlich verächtlich, falls sie sich den Luxus der Verachtung auf Kosten von Zurückhaltung, Neutralität und Integration erlaubte.
Am Nachmittag holte ich eine Stunde Schlaf nach; trotzdem lag ein Schleier über dem ganzen Tag. Es war sonnig und ungewöhnlich warm für Februar. Als es schon dunkelte, kurz vor Dienstschluss, mussten wir noch einmal hinaus, Brustschmerz und Atemnot, das Übliche. Natalia arbeitete mit dem Notarzt am Patienten, während ich ein Medikament vorbereitete. Dazu war es notwendig, den Kopf der Glasampulle an der dünnsten Stelle abzubrechen und mit einer Spritze den Inhalt aufzunehmen; ich hatte das hunderte Male getan. Diese eine Ampulle leistete Widerstand, und statt, wie vorgesehen, den Hals anzusägen, verstärkte ich meinen Griff. Das Glas brach, schnitt mir in den Zeigefinger der rechten Hand, und es floss reichlich Blut. Der Notarzt hob die Brauen, als er sich umdrehte und das Missgeschick sah. Um weiter arbeiten zu können, zog ich mir nur schnell einen zweiten Einweghandschuh über die Hand, aber der lief bald voll Blut. Schmerz spürte ich keinen, vielleicht war die Betäubung der letzten Nacht auch noch immer nicht gewichen; doch ließ sich meine rechte Hand fast nicht mehr gebrauchen, und für einen ordentlichen Verband fehlte die Zeit. Ich kam mir überflüssig, dumm und ungeschickt vor, und der an und für sich glückliche Umstand, dass Natalia mich vollwertig ersetzen konnte, verstärkte das Gefühl nur noch.
Die Schwester in der Notaufnahme des nahen Innenstadtkrankenhauses bemerkte mein Unglück sofort und
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