Circulus Finalis - Der letzte Kreis
mir die meiste Zeit über fehlte.
„ Der Frühling kommt doch bald“, sagte ich hilflos und machte einen Schritt auf sie zu, um sie in den Arm zu nehmen. Sie zitterte leicht, kein Wunder, Anfang Februar - und gestattete die Umarmung, mehr war es nicht. „Das ist die falsche Richtung“, sagte sie noch, „ du weißt es. “
Eine Minute spä ter schon rollten die Waggons des Zuges an mir vorbei gen Süden, ohne dass ich sie sah. Die Kunststofftafeln des Fahrtanzeigers wirbelten durcheinander und zeigten weiße Leere, und ich ertappte mich dabei, mir zu wünschen, dass dort wieder Ancona stünde, ohne zu wissen, was das hätte ändern sollen.
Vor allem aber war ich wü tend.
Auf der Rückfahrt drehten meine Gedanken sich im Kreis. Ich dachte an den Schlüsselwurf; an die naive Überzeugung, es könne mir alles gelingen. Vielleicht war Hanna das letzte Hindernis gewesen, das mich davon trennte, und ihr Abschied eine Notwendigkeit? Aber so fühlte es sich nicht an, und schon der Gedanke tat weh.
Um mein Gleichgewicht wiederzuerlangen, tat ich das Offensichtliche: Ich ging zum Friseur. An Anska, der fü r mich auf der Wache Dienst tat, dachte ich erst, als Fellenbeck schon dabei war, die Nackenlinie zu rasieren. Ich tat etwas Unglaubliches, ich bat ihn, sich zu beeilen.
Er nickte nur mit leicht schrä g gelegtem Kopf, ich sah es in dem an den Ecken schon blinden, aber makellos sauberen Spiegel; doch als er fertig war und ich schon ungeduldig darauf wartete, dass er mir den Umhang abnähme und ich aufspringen könnte, legte er mir eine Hand auf die Schulter, in der sein ganzes Gewicht konzentriert war, und sah mir auf dem Umweg über den Spiegel in die Augen. „Sie müssen ein bisschen besser achtgeben“, war alles, was er sagte. Keine Erklärung, kein weiteres Wort. Ich zahlte so wie immer, trat durch den Vorhang hinaus in die Welt, und da war sie wieder, meine Wut. Noch vergrößert durch das Gefühl, dass dieser Friseurbesuch reine Zeitverschwendung gewesen war. Eilig begab ich mich zurück zur Wache, wo Anska gleichmütig und ohne Fragen auf das überfällige Ende seines Dienstes wartete.
Vom Rest dieses Tages ist mir nicht viel in Erinnerung, ein paar Fahrten wird es gegeben haben. Am Abend fand im Stadion ein Heimspiel des örtlichen Bundesliga-Fußballvereins, der Werksmannschaft sozusagen statt, das auch im Fernsehen übertragen wurde. Anpfiff, man kennt das; der Kommentator beschreibt den Spielverlauf, als handele es sich um eine in erster Linie für Sehbehinderte gedachte Hilfestellung, Einwurf von links, und er geht voran, Pass auf die andere Seite jetzt, ja, Schuss, leider viel zu hoch. Es gibt einen unerwartet deutlichen Sieg. Gegen Mitternacht gehen wir schlafen.
Knappe zwei Stunden spä ter zerreißen die Funkmelder, trotz Baugleichheit ein wenig unterschiedlich in ihrer Frequenz und daher misstönend wie ein schlecht gestimmtes Klavier, den dichten Vorhang meines Tiefschlafs, und noch halb im Traum stolpere ich die Stufen zur Fahrzeughalle hinunter. Prügelei in der Fußgängerzone. Dieses Mal bin ich als Fahrer eingeteilt, Schlager neben mir, ruhiger als sonst. Noch immer gelingt es mir nicht, vollständig wach zu werden, doch inzwischen funktioniere ich: Gebe Gas, blinke, bremse. Werbeplakate und die kahlen Wände freudloser Betonbauten werfen den Schein des Blaulichts zurück, was mich der Realität weiter entrückt. In einem Wohnblock zieht ein hell erleuchtetes Fenster meinen Blick auf sich: Eine nackte Glühbirne in einem weiß gestrichenen Zimmer, an dessen Decke sich unzählige bunte Luftballons gesammelt haben. Ohne Zwischenfall erreichen wir den Einsatzort in der weitgehend wie ausgestorbenen Stadtmitte.
Die Alarmierung ist eine Vorsichtsmaß nahme; nicht mehr als ein dutzend Fußballfans belauern sich wie zwei feindselige Wolfsrudel. Einige Blessuren, das stellen wir mit schnellem Blick fest, aber niemand am Boden. Auch ein paar Frauen sind dabei, um Nichts weniger aggressiv als der Rest. Eine von ihnen zeigt plötzlich auf mich und ruft lachend: „Der hat ja die Hose auf!“ Recht hat sie, das Gürtelende hängt herunter, der Bund steht offen. Noch immer wie im Traum schließe ich Knopf und Gürtel.
Den kurzen Moment der Ablenkung nutzt einer aus dem anderen Lager, ein Kleiner, Kompakter, der trotz mä chtigem Bauch jetzt unbemerkt in schnelle Bewegung gerät. Trotz meiner Beschäftigung mit der Hose und einer Art geistiger Lähmung nehme ich in aller Deutlichkeit wahr, wie er
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