Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
habe, was ich will«, sagte Madame Orrery und steckte das Stoffstück ein. »Aber zuerst musst du mir helfen, den Jungen zu finden.«
Pandora sah sie aus rot verschwollenen Augen an.
»Wie?«, fragte sie unglücklich.
»Wir besuchen morgen den Mann mit dem Wachsamen Auge.«
Pandora nahm noch schwach wahr, dass Madame Orrery wieder ihre Silberuhr aufzog. Dieses Mal wehrte sie sich nicht gegen die einschläfernde Wirkung, sondern überließ sich bereitwillig den Wogen der Müdigkeit, die über ihr zusammenschwappten und sie dem Vergessen entgegentrugen.
»Mr Sidereal hat überall in London seine Linsen aufgestellt«, hörte sie Madame Orrery wie aus weiter Ferne murmeln. »Es gibt also keinen Ort, wo sich der Junge verstecken könnte.«
Pandora sah noch einmal blinzelnd zum Fenster hin, dann sank sie endgültig in Schlaf.
Cirrus allein
Cirrus rollte sich auf der harten bröckeligen Erde auf die Seite und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Um ihn herum zeichneten sich dunkle Schatten auf dem Boden ab, ein hoher Turm ragte in den Himmel. Der Mond stand groß und voll über der Stadt und tauchte alles in einen ziegelroten Schimmer.
Als sich Cirrus’ Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er auf dem nahe gelegenen Weg einen winzigen Lichtpunkt größer und heller werden.
»He! Du da!«, rief plötzlich ein Mann und hielt eine Laterne hoch, sodass Cirrus das Licht ins Gesicht fiel. »Verschwinde, Junge, oder soll ich dich ins Gefängnis stecken lassen? Dieses Stück Erde ist heilig. Kein Ort für Gesindel wie dich!«
Cirrus rappelte sich auf und schüttelte seine steifen Glieder. Er stand auf einem Friedhof. Die Nachtkälte war ihm in die Knochen gedrungen, er fror, und ihm war elend zumute. Jacke und Hose waren dreckverschmiert. Tränen stiegen ihm in die Augen, doch er wischte sie mit dem Ärmel fort und humpelte vom Friedhof auf eine kopfsteingepflasterte Straße. Unter seinen Füßen quatschte der Schlamm. Er hatte keine Schuhe.
Der Wächter stieß ihn grob mit seinem Knüppel vor sich her.
Sogar jetzt, mitten in der Nacht, sah Cirrus andere Leute neben sich dahinschlurfen. Hier und da karrten Nachtarbeiter Wagenladungen voll Dung aus den Höfen, und Jungen mit schwankenden Fackeln warteten in Eingängen und Verschlägen auf Leute, die sie vielleicht nach Hause geleiten könnten. Kirchenglocken schlugen die Stunden.
Cirrus stolperte blindlings weiter, er wusste nicht, wohin. Sein einziger Freund in der Stadt war Bottle Top , aber er konnte sich nicht mehr an den Namen des Mannes erinnern, der ihn als Lehrling mitgenommen hatte, auch nicht an den Ort, wo dessen Museum war. Nach dem Weg zu fragen, hatte er schon lange aufgegeben. ›Verschwinde, Junge‹ oder ›Verdammt, stellst du dämliche Fragen‹ waren nur einige der hilfreichen Antworten von Passanten, die er tagsüber bekommen hatte. Mehrmals hatte man ihm sogar eine Ohrfeige verpasst, wegen nichts und wieder nichts. Zuletzt war er erschöpft zu Boden gesunken – zufällig auf einem kleinen Friedhof in der Nähe des Flusses – und eingeschlafen.
Und jetzt war er also wieder unterwegs.
So bald wie möglich hängte er den Wächter ab und verschwand in einem Seitengässchen. Die St Paul’s Kathedrale, der einzige Anhaltspunkt auf seinem Weg durch die Stadt, war nicht mehr zu sehen, sie lag hinter einem Gewirr von Häusern verborgen. Allein und ohne jede Orientierung ging er weiter.
Zögernd wich die Dunkelheit, und die Sonne drang allmählich durch die diesigen Wolken. Leute kamen aus den Häusern und bevölkerten die Straßen. Bald war die Luft vom Duft nach Brot und Kaffee erfüllt. Sein Magen knurrte, er fühlte sich schwach vor Hunger. Mehr und mehr Fuhrwerke und Kutschen rumpelten vorüber.
So viele Menschen. Wie sollte er in diesem Gewimmel Bottle Top finden?
Schließlich setzte er sich in einen geschützten Innenhof, um seine müden Füße auszuruhen. Krämer und Kaufleute in den Straßen ringsum gingen ihrem Gewerbe nach. Cirrus spürte die Kugel an seiner Brust, das Kribbeln von kaltem Metall an seiner Haut, und er zog sie hervor, um sie noch einmal genauer zu betrachten. Er war fasziniert von den weit entfernten Ländern auf der anderen Seite der Welt und fragte sich einmal mehr, wie sein Vater zu dieser Kugel gekommen sein mochte und wofür sie gut war.
Er musste eingenickt sein, denn als er wieder aufsah, hatte sich eine Schar Jungen um ihn versammelt. Ihre Gesichter waren mager und hungrig, ein
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