Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
und ihm seine Peitsche zu spüren gab. Mit wild pochendem Herzen hastete Cirrus durch eine Nebenstraße, er wollte so schnell wie möglich weg von hier. Seine Lunge brannte wie Feuer, der stechende Schmerz in der Seite wurde unerträglich und machte ihm das Atmen schwer. Er würde stehen bleiben müssen, um zu verschnaufen.
Da! Nicht weit vor ihm war zwischen zwei schräg sich neigenden Häusern ein schmaler Durchgang! Er rannte hin und konnte sich – gerade als wieder eine Pferdefuhrwerk vorbeirumpelte – in die enge Lücke zwängen.
Ein fauliger Geruch stieg vom Boden auf, und er spürte etwas Ekliges unter seinen nackten Sohlen. Etwas Feuchtes, Pelziges huschte über seinen Fuß. Er zuckte zusammen, und obwohl er am liebsten wieder zurückgerannt wäre, blieb er nicht stehen, bevor er ganz außer Sichtweite der Straße war. Er watete immer weiter in den schmutzigen Durchgang hinein und hielt sich dabei Nase und Mund zu. Kalter Schweiß lief ihm über den Rücken. Die Häuser standen hier so eng zusammen, dass sie einander fast berührten.
Endlich, scheinbar nach einer Ewigkeit, konnte er sich ein wenig entspannen. Von Halsabschneider-Charlie und seiner Bande war nichts mehr zu hören. Er folgte dem Durchgang bis ans andere Ende und kam auf eine Straße, die ziemlich genau so aussah wie die, aus der er eben geflohen war. Vorsichtig sah er sich um, bereit, beim Anblick eines feindseligen Gesichts sofort wegzurennen, doch die Ladenbesitzer hier waren viel zu beschäftigt, um auf einen zerlumpten Straßenjungen zu achten. Cirrus wusste nur zu gut, dass seine Jacke und seine Hose vor Dreck strotzten.
Etwas weiter vorn an der Straße sah er einen weiten, baumbestandenen Platz. Ein wohliger Geruch nach warmem Essen hing in der Luft, und er humpelte darauf zu. In seinem Knöchel pochte der Schmerz, er fürchtete, er hatte sich die Füße verletzt.
Der Markt wimmelte von Menschen, und Cirrus suchte mit hungrigen Augen nach der Quelle des würzigen Duftes. Da drüben musste es sein. Eine Frau mit Ausschlag auf den Wangen verkaufte an einer Bude ›Gefüllte Teigtaschen‹.
Verlockend stieg Cirrus der Geruch in die Nase, er ging näher heran und beobachtete neidisch, wie Kunden ihre Zähne in das warme knusprige Gebäck gruben.
Auf einem niedrigen Holzpodest auf der anderen Seite des Marktplatzes stand ein Mann, Kopf und Hände durch die Löcher des Prangers gesteckt. Er war am ganzen Körper mit faulen Tomaten besudelt. Kinder hatten sich um ihn geschart und hoben auf, was sie an essbaren Marktabfällen auf dem Boden finden konnten.
Plötzlich war über all dem Gewimmel eine wohltönende Singsangstimme zu hören.
»Feuerkugel über London! Erdbeben in Devon! Gemeindemitglieder fallen auf die Knie und beten!«
Cirrus erkannte die Stimme sofort. Er schaute über den Platz, und kurz darauf erblickte er Jonas, der mit einem Packen Zeitungen und Balladenblättern an einer Straßenecke stand und Neuigkeiten ausrief.
Außer sich vor Freude, endlich ein vertrautes Gesicht zu sehen, lief Cirrus hinüber. Irgendwie wirkte Jonas außerhalb der Heimmauern weniger bedrohlich.
»Mich laust der Affe!«, sagte Jonas grinsend, als er ihn erblickte. »Dass ich dich noch mal seh’, hätte ich nie gedacht. Hast also auch einen Meister gefunden?« Nach einem zweiten Blick auf Cirrus schüttelte er den Kopf. »Nein, hast du nicht. Dann also ausgebüchst, wie?«
Cirrus sah zur Seite, was sollte er sagen? Zum Glück begann gerade in diesem Moment sein Magen lautstark zu knurren. Jonas hörte es.
»Wann hast du zuletzt was gegessen?«, fragte er und sah zu ihm hoch.
Cirrus zog die Schultern nach oben. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren; ihm war schwindlig vor Hunger und Erschöpfung.
Jonas blickte über den bevölkerten Marktplatz. »Warte hier!«, sagte er, und schon legte er seine Papierstapel auf den Boden und schlängelte sich durch die Menge zu der Bude hin. Mit zwei Teigtaschen kam er zurück.
»Da! Hau rein!«, sagte er und gab Cirrus eine der klumpigen Teigtaschen. »Kann dir nicht sagen, was drin ist, aber sie sind’n ganzes Stück besser als die Fressalien bei Mrs Kickshaw. Gut genug sogar für den Vorsteher, möchte ich meinen.« Er zwinkerte.
Heißhungrig biss Cirrus hinein, leckte auch noch den kleinsten Tropfen Soße von seinem Daumen und jeden Krümel von seinen Fingern, nachdem die Teigtasche längst verschwunden war. Zufrieden spürte er, wie sich Wärme in seinem Bauch ausbreitete, wenn auch der Teig
Weitere Kostenlose Bücher