Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
dem Heim verschwunden wie er.«
Pandora schwieg eine Weile und versuchte, den Zusammenhang zu begreifen. »Und deshalb müssen wir ihn also dringend finden«, sagte sie schließlich.
Der Mann warf ihr einen merkwürdigen Blick zu. »Ja«, sagte er. »Morgen, sobald die Sonne aufgeht, machen wir uns auf die Suche nach dem Jungen. Aber jetzt musst du schlafen, Pandora.«
Er erhob sich, brachte ein paar Decken aus dem Korb und gab sie ihr. Pandora breitete sie auf dem Boden aus und rückte näher an den Vogel heran, der mit seinen glühenden Federn eine behagliche Wärme ausstrahlte.
Doch gingen ihr zu viele Fragen durch den Kopf, als dass sie schon Ruhe hätte finden können. Sie wälzte sich hin und her. »Erzählen Sie mir etwas von der anderen Seite der Welt«, bat sie. »Und wie Sie den Vogel gefunden haben.«
Erst machte der Mann ein abweisendes Gesicht, dann ließ er sich jedoch überreden. »Na gut«, sagte er. »Aber nur kurz. Dann musst du wirklich schlafen.« Er nahm einen Schluck aus einer Flasche, die er aus dem Korb geholt hatte.
Pandora nickte zufrieden, drehte sich auf den Rücken und blickte an der hohen Dachkuppel hinauf. Wolken zogen darüber hinfort.
»Vor zwölf Jahren«, begann er mit rauer Stimme, »brachen James und ich zur anderen Seite der Welt auf. Es war eine beschwerliche Fahrt, die von Anfang an unter einem unguten Stern stand. Cirrus war gerade zur Welt gekommen, und Arabella, James’ Frau, war bei der Geburt gestorben. James war verzweifelt, er musste das Kind zurücklassen.«
»Im Findelhaus«, riet Pandora.
»Ja. Der Vorsteher hat ihn aufgenommen. Aber James war in keiner guten Verfassung für eine solche Fahrt. Er litt unter dem Verlust des Jungen, und er trauerte um seine Frau. Er hatte eine Art fiebrige Wahnvorstellung, er könnte sie zurückholen …«
Der Mann zögerte einen Augenblick, als könnte er die Beweggründe seines Freundes noch immer nicht verstehen. Dann fuhr er fort: »Die Winde hatten sich gegen uns verschworen. Es war, als spürte die Natur unseren Irrtum und versuchte, uns von unserem Ziel abzuhalten. Wir hatten mit Wellen von einer Wucht und Größe zu kämpfen, wie ich sie vorher und nachher nie mehr erlebt habe …«
Beim Zuhören, während Pandora das stürmische Meer vor sich sah, hob und senkte sich ihre Brust im Rhythmus seiner Worte, doch als das Schiff endlich die Spitze von Kap Hoorn erreichte, war sie schon fest eingeschlafen.
»Und dann nahm die Katastrophe ihren Lauf«, sagte Mr Hardy zu sich und nahm noch einen Schluck aus der Flasche. »Das Schiff geriet in einen schweren Sturm, einen Orkan, der die ganze Mannschaft demoralisierte.«
Els Jahre früher
Vor Kap Hoorn 1772
Der Sturm
Eine riesige Woge türmt sich auf, peitscht auf das Schiff nieder und reißt die erschöpften Männer von den Beinen. Wasser schießt durch ein Loch im Rumpf herein, und Felix erkennt die schreckliche Wahrheit: Das Schiff wird untergehen. Es ist durch nichts zu retten.
Der Sturm heult in seinen Ohren, Regen prasselt schmerzhaft in sein Gesicht, als er sich über das Achterdeck kämpft. Eine einsame Gestalt am Ruder steuert das schwer lädierte Schiff durch das Zentrum des Orkans, unerschütterlich hält der Mann Kurs auf einen Horizont, den nur er allein sehen kann – eine ferne Eis- und Nebelwand, vom Schlachtfeld der Wellen und Wolken versperrt.
Ein solches Unwetter hat Felix noch nie erlebt. Es ist, als führten Meer und Himmel Krieg gegeneinander. Von unten steigen Wellen himmelwärts und stürzen krachend in sich zusammen, während von oben grelle Feuerblitze die berstenden Wolken erhellen.
Da erblickt Felix aus den Augenwinkeln ein heimtückisches Felsmassiv, das sich schwärzer als die See aus dem Wasser erhebt. Das Blut gefriert ihm in den Adern, er schmeckt den bitteren Geschmack der Angst in seiner Kehle.
Er wendet sich nach Steuerbord, schreit: »Ahoi!«, aber der Sturm reißt ihm das Wort von den Lippen, dehnt es zu einem schwachen Flüsterlaut, der im Orkan untergeht.
Eine neue Woge nähert sich, rollt auf das Schiff zu, türmt sich auf, höher und höher, bis sie den nachtschwarzen Himmel völlig verdeckt. Felix verlässt aller Mut, als er direkt über sich den filigran gekräuselten Kamm einer mächtigen Welle sieht, und kaum hat er Halt gefunden, sich an den nächstbesten Gegenstand geklammert, stürzen die Wassermassen auf das Schiff herunter, krachend und mit der Wucht eines Wals.
Das Schiff gibt nach, schwankt, legt
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