Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Titel: Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthew Skelton
Vom Netzwerk:
musterte sie von oben bis unten.
    »Alles in allem ganz passabel«, sagte er und schnitt ein Stück von einer Seilrolle ab, die im Korb lag. Er schlang es um Pandoras Taille und band die Enden zusammen. »Wo du jetzt mein Vollmatrose bist, dürfen wir nicht das Risiko eingehen, dass deine Hosen runtersegeln, oder?«, sagte er augenzwinkernd.
    Pandora wurde rot, ob aus Verlegenheit oder aus Freude, wusste sie nicht.
    »Fliegen wir wieder mit dem Mondsegelschiff?«, fragte sie hoffnungsvoll. Ihre Augen wanderten zu dem ausgebreiteten Stoff auf dem Dach.
    »Aber nein, Kind«, sagte Mr Hardy. »Das ist zu gefährlich, jetzt, wo Mr Sidereal uns beobachtet.« Er deutete mit seiner Messerklinge hinunter auf das Straßengewirr. »Nein, nein, wir gehen zu Fuß. Jetzt sieh zu, dass du was in den Magen bekommst, dann brechen wir auf.«
    Er gab ihr Brot und Käse, das sie beides heißhungrig verschlang. Hinterher spülte sie mit einem Schluck aus Mr Hardys Flasche nach. Die kräftige brennende Flüssigkeit kratzte in ihrer Kehle und trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie hustete ein bisschen, doch als sie spürte, wie sich wohltuende Wärme in ihrem Magen ausbreitete, lächelte sie.
    In diesem Augenblick stieß Alerion zu ihnen, er flog vom Glockenturm herab, den er als Schlafplatz gewählt hatte, und ließ sich auf der Metallstange des Korbes nieder.
    Pandora bewunderte das leuchtend rotgoldene Federkleid des Vogels, jede einzelne Feder ein Funke, der sich sofort entzünden konnte. »Was ist Alerion eigentlich für ein Vogel?«, fragte sie atemlos vor Staunen.
    Mr Hardy griff in den Sack hinter sich und zog ein Dutzend toter, an den Schwänzen zusammengebundener Ratten heraus.
    Alerion beobachtete ihn interessiert, und seine Augen loderten erwartungsvoll auf. Sein kurzer gekrümmter Schnabel öffnete sich und zeigte eine lange feuerrote Zunge.
    »Ein Halcyonvogel«, sagte er und warf ihm eine Ratte zu. Alerion fing sie mit den Klauen und riss Fleischbrocken aus dem grau verfilzten Tierkadaver.
    »Woher stammt er?«
    »Von der anderen Seite der Welt«, antwortete Mr Hardy. »Wie ich schon gesagt habe. Von einer Insel vor Kap Hoorn, nicht größer als diese Stadt.«
    Pandora blickte in die Ferne, vorbei an den Werften und Speicherhäusern, die nach Süden hin dicht nebeneinander am Fluss standen, weiter bis zu den Gerbereien und Mühlen, die im frühmorgendlichen Dunst erst jetzt langsam sichtbar wurden. Was sie vom anderen Ende der Stadt sehen konnte, war nichts als ein Wald aus Masten und Schiffstakelwerk.
    »Und wie war es da?«, fragte sie und dachte an Pfarrer Fairweathers Predigten über Heiden und fremde Länder. »Gab es da Wilde?«
    »Himmel nein!«, sagte Mr Hardy beinahe beleidigt. »Benutze dieses Wort nicht, Kind. Auf der Insel lebte ein uraltes Volk, ein edles Volk. Der Stamm der Oona.«
    »Der Stamm der Oona?«, sagte sie und ließ das Wort über die Zunge rollen. »Haben sie englisch gesprochen?«
    Mr Hardy zog die Augenbrauen hoch. »Nein, Kind«, sagte er leise lachend. »Sie haben eine andere Sprache gesprochen, die Sprache der Erde, die Sprache des Himmels. Sie konnten im Rascheln eines Blattes mehr lesen, als wir je hoffen können, aus einem Buch zu erfahren. Sie konnten im Wind die Zukunft lesen, und sie konnten mit den Vögeln sprechen.«
    Pandora machte große Augen. »Aber wie haben Sie sie dann verstanden?«
    Mr Hardy schwieg eine Weile. »Es dauerte seine Zeit, wie alles im Leben«, sagte er. »Ich habe von ihnen gelernt, und sie haben von mir gelernt.«
    Alerion putzte sich, plusterte die Flügel und ließ heiße Funken aufstieben. Mr Hardy warf ihm noch eine Ratte zu.
    »Sie waren ein friedliches Volk«, sagte er, erhob sich und ging zum Dachrand. »Sie gehörten der Erde, wir dagegen« – er machte eine Handbewegung über die schlafende Stadt hin – »wir glauben, sie gehört uns.«
    Pandora trat neben ihn. Wolkensäulen standen wie eine Festung am Horizont, aber für einen kurzen Moment brach die Sonne durch und verwandelte den Fluss in ein Goldband. Die Stadt funkelte und glänzte im Morgendunst. Doch dann zog sich die Sonne genauso plötzlich zurück, wie sie gekommen war, und die Stadt versank wieder in Schatten und Rauch, wurde grau und stumpf.
    »Sie sagen, sie waren ein friedliches Volk«, sagte Pandora nach einer Weile zögernd. »Was ist mit ihnen passiert, Mr Hardy?«
    Mr Hardy kratzte seine Stiefelsohlen am Dachvorsprung ab und starrte in die Ferne. Das Leuchten in seinen Augen

Weitere Kostenlose Bücher