City Crime – Vermisst in Florenz
»Später!«
Finn schwieg, obwohl er vor Neugier platzte. Langsam drehte er seinen Kopf zu dem Zugestiegenen und musterte ihn ausführlich: schätzungsweise dreißig Jahre alt, Dreitagebart, kurze, leicht gewellte schwarze Haare, weißes Hemd, schwarzer Anzug. Schlanke Statur. Fehlte nur noch die Sonnenbrille und der Typ hätte bei Men in Black Außerirdische jagen können.
Während sich Finn alles einprägte, bemerkte er, dass der Mann vermutlich wie zig Millionen andere Italiener aussah. Er fragte sich, was genau er sich merken müsste, um den Mann später bei der Polizei unverkennbar beschreiben zu können. Seine Nasenform? Die Ohrläppchen? Die Mundwinkel?
»Che cos`è?«, fragte der Mann und sah Finn böse an. »Perché mi fissa?«
Finn schrak zurück und schaute fragend zu seiner Schwester.
»Er will wissen, was los ist und warum du ihn anglotzt!«, übersetzte Joanna.
Finn lief rot an. Ihm war nicht bewusst, dass er den Mann angestarrt hatte.
»Scusi«, entschuldigte sich Joanna für ihn.
Der Mann brummte etwas und schaute endlich wieder weg.
»Benimm dich!«, warnte Joanna ihn.
Finn schluckte und atmete tief durch. Vermutlich musste er wirklich besser aufpassen. Aber er war einfach zu nervös durch Joannas Geheimniskrämerei. Trotzdem: Er konnte sich jetzt nicht das Gesicht jedes Mannes merken, dem er begegnete, in der Annahme, an einen Verfolger, Agenten, Banditen oder sonst etwas geraten zu sein. Er hoffte, dass sie bald bei Joanna zu Hause sein würden und sie ihm endlich alles erklärte. So lange wusste er gar nicht so recht, wo er hinschauen sollte, ohne dass der Typ neben ihm gleich wieder das Gefühl bekam, Finn würde ihn anglotzen. Also schaute er abwechselnd nach hinten aus dem Fenster und zu seiner Schwester. Und endlich bemerkte er, weshalb ihm Joanna irgendwie anders vorgekommen war, als er sie von zu Hause kannte: Sie war geschminkt!
Ihre Wimpern glänzten tiefschwarz, unter den Augen war jeweils ein dünner lilafarbener Strich gezogen. Die Lippen hatte sie sich zwar nicht mit Farbe angemalt, aber sie glänzten, und ihre Fingernägel hatte sie lila lackiert. Finn fragte sich, ob Joanna sich schminkte, seit sie in Florenz wohnte, oder erst, seit Vater verschwunden war. Bei den Chatsitzungen mit Webcam hatte er nie darauf geachtet.
»Ist was?«, fragte Joanna.
»Nein!«, wehrte Finn ab. »Jetzt fang du nicht auch noch an!« Er wandte schnell den Blick von seiner Schwester ab und schaute wieder nach hinten aus dem Fenster.
Ellenlange weitere zwanzig Minuten später war es endlich so weit.
»Hauptbahnhof!«, sagte Joanna und stieß Finn erneut in die Seite. »Der Bus endet hier. Wir steigen aus.«
Finn ließ dem Mann neben sich den Vortritt und stieg dann gemeinsam mit seiner Schwester aus.
Kaum waren sie draußen, blieb er stehen. Noch nie hatte er eine so laute Stadt erlebt. Hunderte Mopeds knatterten, oder waren es Tausende? Der Lärm aus der Bahnhofshalle drang bis auf die Straße. Busse brummten an ihm vorbei, Touristenströme quollen aus dem Bahnhof heraus oder wollten hinein, einzelne Gruppen hetzten zu den Bussen, aus anderen kullerten die Menschen förmlich heraus wie Tomaten aus einem überfüllten Supermarktregal. Die meisten hatten auch entsprechend rote Köpfe. Es war heiß und stickig. Die Luft stank nach Abgasen. Von überall her hupte es, als würden feiernde Hochzeitsgesellschaften rund um den Bahnhof durchdrehen. Aber es war offenbar der ganz normale Mittagsverkehr von Florenz. Von allen Seiten wurde Finn angerempelt, bloß weil er nicht zügig weiterging und sich nicht in die Menschenströme einreihte, sondern immer noch mit offenem Mund an dem Bussteig stand.
»Was ist los?«, fragte Joanna.
»Ist das hier immer so?«, fragte Finn.
Joanna sah sich um und fragte sich, was speziell ihr Bruder wohl meinen könnte. Doch er meinte alles: den Verkehr, den Gestank, die Menschenmassen, die Hupkonzerte.
»Das geht doch noch«, antwortete ihm Joanna mit einem Grinsen. »Der Feierabendverkehr kommt erst noch. Und die Hauptsaison für die Touristen hat gerade erst begonnen!«
»WAS?«, stieß Finn aus.
»Stell dich nicht so an. Komm!«, wies seine Schwester ihn an und zog ihn mit sich. »Wir brauchen nur fünf Minuten zu Fuß. Unsere Wohnung liegt echt zentral.«
Aber Finn fand, dass das unter den gegebenen Bedingungen eher eine schlechte Nachricht war.
Ein verborgener Schatz
Tatsächlich brauchten sie keine fünf Minuten durch die vollen und lauten Straßen von
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