City of Lost Souls
dich zu holen.«
»Das weißt du doch gar nicht … «, wisperte Clary trotz ihrer trockenen Kehle.
»Doch, das weiß ich«, erwiderte Jocelyn. »Valentin ist nach fünfzehn Jahren zurückgekommen, um mich zu holen. So sind die Morgenstern-Männer nun mal gestrickt: Sie geben niemals auf. Er wird wieder und wieder hier auftauchen, um dich zu holen.«
Jace ist nicht Valentin. Doch Clary brachte die Worte nicht über ihre Lippen. Am liebsten hätte sie sich neben Luke gekniet, seine Hand genommen, ganz fest gehalten und ihm gesagt, dass sie ihn liebte. Gleichzeitig erinnerte sie sich daran, wie Jace sie berührt hatte, wie seine Hände ihren Körper gestreichelt hatten. Geknickt ließ sie den Kopf sinken: Das war alles nur ihre Schuld. Sie verdiente es nicht, Luke zu trösten – oder sich selbst. Was sie verdiente, waren Schmerz und Schuldgefühle.
Plötzlich waren Schritte auf den Stufen vor dem Haus zu hören, dann leises Stimmengewirr. Ruckartig hob Jocelyn den Kopf. Das Rudel.
»Clary, geh in dein Zimmer und pack deine Sachen«, befahl sie. »Nimm alles mit, was du unbedingt brauchst, und nur so viel, wie du tragen kannst. Wir werden nicht hierher zurückkehren.«
6 Keine Waffe dieser Welt
Der erste Schnee fiel: Weiße Flocken schwebten wie Federn aus dem stahlgrauen Himmel herab, während Clary und ihre Mutter durch die Greenpoint Avenue eilten, die Köpfe gegen den eisigen Wind gesenkt, der vom East River heraufwehte.
Seit sie Luke in der ehemaligen Polizeiwache zurückgelassen hatten, die dem Rudel als Hauptquartier diente, hatte Jocelyn kein einziges Wort gesagt. Die ganze Situation war wie im Nebel an Clary vorbeigezogen: Das Rudel, das seinen Anführer in die Wache trug, ein Mitglied, das mit einem Sanitätskasten herbeigeeilt kam, ihre Mutter, die sich genau wie sie selbst angestrengt bemühte, einen Blick auf Luke zu werfen, während die Werwölfe ihre Reihen um ihn zu schließen schienen. Clary wusste natürlich, warum sie ihn nicht in ein irdisches Krankenhaus bringen konnten, aber es war ihr schwergefallen, fast unerträglich schwer, ihn in dem weiß gekalkten Raum zurückzulassen, der dem Rudel als Krankenstation diente.
Dabei war es nicht so, dass die Wölfe Jocelyn oder Clary nicht mochten. Es lag vielmehr daran, dass Lukes Verlobte und ihre Tochter keine Rudelmitglieder waren – und auch nie welche sein würden. Clary hatte sich nach Maia umgesehen, auf der Suche nach einer Verbündeten, aber das Mädchen war nicht da gewesen. Schließlich hatte Jocelyn Clary hinausgeschickt, weil sich bereits zu viele Leute in der Krankenstation drängten, und Clary hatte sich draußen vor dem Raum auf den Boden gehockt, ihren Rucksack auf den Knien. Nie zuvor hatte sie sich so allein gefühlt wie in diesem Moment, um zwei Uhr morgens im menschenleeren Flur. Wenn Luke sterben würde …
Sie konnte sich an ein Leben ohne ihn kaum noch erinnern. Und sie verdankte es Luke und Jocelyn, dass sie bedingungslose Liebe kennengelernt hatte. Eine ihrer frühesten Kindheitserinnerungen beinhaltete Luke, der sie hochhob und in die Astgabel des Apfelbaums auf seiner Farm setzte. Auf der Krankenstation lag er mit rasselnder Atmung, während sein Zweiter Offizier, Bat, den Sanitätskasten auspackte. Clary erinnerte sich, dass es hieß, Todgeweihte würden kurz vor ihrem Ableben nur noch röchelnd atmen. Sie konnte sich nicht mal mehr daran erinnern, was das Letzte war, worüber sie mit Luke gesprochen hatte. Es hieß doch immer, man müsste sich an die letzten Worte erinnern, die man zu jemandem gesagt hatte, bevor derjenige starb …
Als Jocelyn endlich aus dem Krankenzimmer trat, wirkte sie vollkommen erschöpft. Müde streckte sie Clary ihre Hand entgegen und half ihr beim Aufstehen.
»Ist er … «, setzte Clary an.
»Sein Zustand ist stabil«, erklärte Jocelyn, warf dann einen Blick in beide Richtungen des Flurs und fügte hinzu: »Wir sollten aufbrechen.«
»Aber wohin denn?«, fragte Clary verwirrt. »Ich dachte, wir bleiben hier … bei Luke. Ich will ihn nicht allein lassen.«
»Das will ich auch nicht«, erwiderte Jocelyn fest. Und Clary musste an die junge Frau denken, die Idris den Rücken gekehrt und alles zurückgelassen hatte, was ihr lieb und vertraut war, um ganz auf sich allein gestellt ein neues Leben zu beginnen. »Aber wir können nicht zulassen, dass Jace und Jonathan dich hier aufspüren. Das würde das Rudel in Gefahr bringen und Luke erst recht. Und das Hauptquartier ist der erste Ort, an
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