Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
Körper ganz zur Ruhe zu bringen. Es gelang ihr nicht, das Bein so hoch nach hinten zu strecken, wie sie es als Puppe gekonnt hatte. Aber sie verlor nicht das Gleichgewicht und hielt die Pose mit schierer Willenskraft zu den letzten Takten der Musik … eins, zwei, drei, aus! Während sie in einen Knicks sank, klatschten Lizzie Rose und Parsefall begeistert Beifall.
Cassandra hätte auch gern applaudiert. Sie versuchte, ihre rechte Hand zu bewegen, aber die blieb schlaff auf der Bettdecke liegen. Sie bemühte sich, zu sprechen: »Das war eine guuu…« Ihre Zunge war schwer. Sie wollte den Kindern sagen, dass sie in ihrer letzten Stunde doch noch eine gute Tat vollbracht hatte. Sie hatte Clara von ihrem Geheimnis erlöst, sodass sie tanzen konnte. Doch auf einmal waren da keine Worte mehr. Der Laut, der ihr stattdessen entfuhr, klang furchterregend und gepresst und ließ die Kinder an ihr Bett eilen.
Sie machten schrecklich verängstigte Gesichter. Clara schrie Parsefall an, er solle ihren Vater holen. Aber der Junge blieb starr und entgeistert stehen, wo er war. Ruby kläffte mit gesträubtem Nackenfell. Lizzie Rose griff nach Cassandras rechter Hand und Clara nach der linken. Wie gern hätte Cassandra ihnen die Finger gedrückt, um ihre Dankbarkeit zu zeigen. Doch sie hatte keine Kraft mehr. Sie spürte, wie ein Ruck durch ihren Körper ging, als würde ein riesenhaftes Tier sie in seinem Maul schütteln. Die Welt um sie herum verdunkelte sich und das Ding schoss von der Decke herab. Es folgte ein kurzer verzweifelter Kampf, bis Cassandra begriff, dass das Ding heilig war. Dann riss der Faden, der ihre Seele und ihren Körper verbunden hatte, und sie starb, noch bevor die Kinder ihre Hände losließen.
Epilog
D ie Beerdigung zog sich endlos hin. Parsefall stand auf dem privaten Friedhof von Strachan’s Ghyll und beschimpfte insgeheim den Priester. Mit den Stiefelspitzen scharrte er im schmelzenden Schnee und beobachtete, wie die weißen Schneekristalle die Farbe von grauem Zinn annahmen. Es verblüffte ihn, dass seine neuen Stiefel so wasserdicht waren. Mit Wollsocken und guten Stiefeln konnte er durch den Schneematsch waten und trotzdem warme, trockene Füße behalten.
Er warf einen Blick über die Schulter zu Lizzie Rose. Sie war die einzige Anwesende bei der Beerdigung, die feuchte Augen bekam. Sie stand Arm in Arm mit Claras Mutter. Mrs Wintermute zog ein spitzengesäumtes Taschentuch aus ihrem Muff und reichte es Lizzie Rose. Wie Pech und Schwefel, stellte Parsefall fest. Mrs Wintermute war nicht darauf gefasst gewesen, plötzlich zwei fremde Kinder aufgedrängt zu bekommen, doch keine zwei Wochen später war ihr Lizzie Rose schon ans Herz gewachsen. Parsefall vermutete, dass Clara ein bisschen eifersüchtig war, aber er sah keinen Grund zum Mitleid: Von jetzt an würde Clara ihn und Lizzie Rose bei sich haben. Es würde ihr gut gehen.
Lizzie Rose war es, die darauf bestanden hatte, dass die ganze Familie der Beerdigung beiwohnte, obwohl das gegen die gesellschaftlichen Gepflogenheiten verstieß: Frauen nahmen für gewöhnlich nicht an Begräbnissen teil. »Wir müssen ihr einfach das letzte Geleit geben«, hatte Lizzie Rose resolut erklärt. »Ansonsten sind da nur Dr. Wintermute und der Priester.« Mit dieser Entschlossenheit hatte sie sich durchgesetzt, und die drei Frauen waren hinter Cassandras Sarg zum Grab geschritten.
Der Friedhof lag in einer kleinen Senke dicht unter einer Hügelkuppe. Von diesem Aussichtspunkt aus überblickte man den Lake Windermere. Parsefall machte sich nicht viel aus Landschaften, es sei denn, es handelte sich um Kulissen für die Puppenbühne, doch der Ausblick, der sich hier bot, fesselte ihn. Es war ein windiger und unpassend strahlender Tag. Das Eis auf dem See war getaut und auf der Wasseroberfläche spiegelten sich die Farben des Winterhimmels. Bei jeder Windböe schien es, als würde eine Handvoll Diamanten über die Wellen gestreut. Parsefall hob den Blick zum Himmel. Lizzie Rose hatte ihm einmal gesagt, die Welt sei rund wie eine Apfelsine und würde sich jeden Tag einmal um sich selbst drehen. Er hatte damals geglaubt, dass sie ihn auf den Arm nehmen wollte. Jetzt war er sich allerdings nicht mehr so sicher. Während er beobachtete, wie die Wolken ihre Schatten über die Hügellandschaft warfen, spürte er, dass die Erde unter ihm sich bewegte.
»Illuminare his qui in tenebris et in umbra mortis sedent« – der Priester erhob die Stimme,
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