Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
»Nichts, gnädige Frau«, erwiderte sie, aber Cassandra widersprach.
»Du bist neidisch – das plagt dich.« Sie verspürte ein kindisches Triumphgefühl, weil sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. »Ich erkenne Neid auf den ersten Blick! Du vermisst es, Teil der Vorstellung zu sein. Jetzt erinnere ich mich: Du wärst gern Tänzerin. Himmel, Kind! Wenn das dein großer Traum ist, dann sitz hier nicht tatenlos rum! Steh auf und tanze für mich!«
»Ich kann nicht«, wehrte Clara ab, und Schamesröte stieg ihr ins Gesicht. »Tanzen konnte ich nur als Puppe. Ich hatte nie Unterricht … wir haben immer getrauert. Mama war der Meinung, das schicke sich nicht.«
Cassandra äffte sie nach: »Mama war der Meinung, das schicke sich nicht … Himmel, Kind! Deine Mutter ist so glücklich, dich wiederzuhaben, sie würde dich sogar nackt tanzen lassen, wenn du das wolltest. Hör auf, dich hinter den Röcken deiner Mutter zu verstecken! Und werde, Herrgott noch mal, nicht rot!« Ihr Tonfall wurde schärfer. »Du bist keine Maus! Eine Maus hätte meinen Feueropal nicht zerstören können. Steh auf und tanze!«
»Ich bin ein Tollpatsch«, sträubte sich Clara. »Das wissen Sie doch … Sie haben das selbst gesagt, damals in der Nacht im Turmzimmer …«
Cassandra dachte an jene Nacht zurück. Sie erinnerte sich an das puppenähnliche Kind, das von Spiegel zu Spiegel geflattert war wie ein weißer Nachtfalter. »Du bist nicht tollpatschig.« Ihre Augen verengten sich. »Du schämst dich für etwas. Deshalb kannst du nicht tanzen. Das bringt dich zum Stolpern! Du trägst ein Geheimnis mit dir herum, nicht wahr, Clara Wintermute? Beinahe hätte ich es gesehen, als du durch das Labyrinth gegangen bist, aber im letzten Augenblick hast du mich abgewehrt. Da ist etwas, was du getan hast … etwas, was dich verschlossen macht und deine Glieder bleiern werden lässt. Was ist es?«
Lizzie Rose ließ die Geige sinken und Parsefall trat mit der Skelett-Puppe in den Händen hinter der Bühne hervor. Sie gingen zu Clara und nahmen sie in die Mitte. Aber Clara schien gar nicht zu bemerken, dass sie da waren. Ihr Blick war starr auf Cassandra gerichtet wie der eines hypnotisierten Vogels vor einer Schlange.
»Was ist es?«, fragte Cassandra ein weiteres Mal. »Egal, was es ist, du solltest es mir besser erzählen.« Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem finsteren Lächeln. »Tatsächlich könntest du niemand Besseren als mich finden, um dein Geheimnis loszuwerden. Denn egal, was du getan hast, ich habe Schlimmeres getan. Also, raus damit!«
Clara öffnete den Mund, aber sie brachte keinen Ton hervor. Ihre Pupillen waren geweitet.
»Hast du gelogen? Oder etwas gestohlen? Oder jemanden ermordet?«
»Ich habe meinem Bruder das Leben genommen.«
Cassandra atmete hörbar aus. Sie wusste, dass sie sich ihre nächsten Worte gut überlegen musste. Angestrengt zerbrach sie sich den Kopf, was sie Kluges und Freundliches sagen könnte. Allerdings entschlüpfte ihr dann eine Antwort, die eher kaltschnäuzig klang: »Kein schlechtes Kunststück, wenn du es wirklich beherrschst. Wie hast du ihm das Leben genommen?«
Im Zimmer herrschte völlige Stille. Clara blinzelte die Tränen aus den Augen. »Sie war in der Brunnenkresse. Die Cholera. Ich wusste das natürlich nicht. Ich wusste nur, dass ich Grünzeug verabscheute. Aber Agnes hat gesagt, dass ich keinen Nachtisch bekäme, wenn ich meine Brunnenkresse nicht aufessen würde. Es gab Maronenpudding an diesem Tag, und ich wollte unbedingt welchen.«
»Und weiter?«
»Wir waren fünf Kinder. Deshalb waren zwei Tabletts nötig, um den Tee in den Kindertrakt zu bringen. Agnes musste deshalb dem Hausmädchen helfen, die Tabletts zurück in die Küche zu tragen, und wir Kinder blieben ein paar Minuten allein. Vor mir stand immer noch der Teller, weil ich die Brunnenkresse noch aufessen sollte. Addie und Selina spielten mit dem Puppenhaus. Also habe ich Charles Augustus – meinen Zwillingsbruder – gefragt, ob er die Brunnenkresse für mich essen würde, damit ich auch Nachtisch bekäme. Und er hat es getan. Er war nie pingelig beim Essen.«
»Weiter.«
»Aber die Krankheit steckte in der Brunnenkresse.« Die Worte sprudelten jetzt schneller aus Clara heraus. Sie zitterte. »Das weiß ich von Papa. Er hat es nicht direkt nach ihrem Tod erzählt, sondern erst ein paar Jahre später, als ich alt genug war, um es zu begreifen. Er sagte, dass es da einen Arzt gebe, der untersucht
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