Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
einginge. Nun brach er sein Wort und warf seine Ehre über Bord. Er nahm die Drohung des Entführers ernst und wagte es nicht, Claras Leben aufs Spiel zu setzen.
Sein Mund verzog sich. Erst vor einer Woche hatte er sich gedacht, wie fremd ihm seine Tochter war. Jetzt schien er sie durch und durch zu kennen. Kleinigkeiten kamen ihm wieder in den Sinn, die Bilder verfolgten ihn. Er erinnerte sich an die Hausschuhe, die Clara für ihn bestickt hatte, an ihr konzentriertes Stirnrunzeln, wenn er ausnahmsweise einmal die Zeit fand, mit ihr Schach zu spielen, und wie sie auf Zehenspitzen durch das Haus schlich, wenn Ada von einer ihrer Kopfschmerzattacken geplagt wurde.
Er suchte nach einer fröhlicheren Erinnerung. Als kleines Kind war sie ungestüm und kräftig gewesen, ein richtiger kleiner Wildfang. Agnes, das Kindermädchen, hatte über ihre Ungezogenheit geklagt.
»Miss Clara ist so laut und frech wie ihr Bruder, Dr. Wintermute, Sir. Für einen Jungen ist es ja wünschenswert, wenn er Temperament hat, aber ein kleines Mädchen sollte sich doch etwas stiller und zurückhaltender benehmen.«
Kurz darauf wurde Clara still. Der Tod ihrer Geschwister hatte sie verstummen lassen.
Dr. Wintermute dachte an ihr Gesicht in jener Nacht, als sie verschwand: an ihre geschwollenen Augen und ihrem Blick, der ihn durchbohrte. Er hatte gefürchtet, dass sie sein schrecklichstes Geheimnis erraten hätte, und jetzt kehrte dieser Gedanke zurück, um ihn zu quälen. Hatte sie erkannt, dass sie in seinem Herzen stets an zweiter Stelle hinter Charles Augustus stand? Ja, so war das gewesen, aber inzwischen nicht mehr. Sollte sie zu ihm zurückkehren, würde er einen Weg finden, ihr das zu sagen. Er würde sie fest in die Arme schließen und ihr immer wieder sagen, wie sehr er sie liebte.
Erneut vergewisserte er sich, dass die zehntausend Pfund noch in seiner Tasche waren. Durch den Mantelstoff umklammerte seine Hand das Bündel Geldscheine. Er sehnte sich nach seiner Tochter und musste sich zusammenreißen, um die Tränen zurückzuhalten.
13. Kapitel
Der 14. November auf Strachan’s Ghyll
D ie Hexe sah sich im Traum auf dem Scheiterhaufen. Weiß glühende Flammenschleier umgaben sie und der Affe aus Messing hüpfte ausgelassen durch den Rauch. Er brabbelte und bleckte die Zähne. Cassandra stöhnte. Der Feueropal auf ihrer Brust war so schwer, dass sie keine Luft bekam.
Sie schlug die Augen auf. Die Flammen rings um ihr Bett flackerten und verwandelten sich in Brokat. Die Bettvorhänge wurden zur Seite gezogen und Grisini stand vor ihr.
Er war wieder jung und sie selbst irgendwie auch. Er trug ein besticktes Wams wie ein Prinz im Märchen, sein Blick war zärtlich, sein Lächeln strahlend. Er beugte sich zu ihr herunter, als wollte er sie auf den Mund küssen, doch er tat etwas noch viel Schöneres. Unendlich behutsam schob er seine Finger unter den Phönixstein und nahm ihr die Last vom Herzen.
Cassandra schrie auf. Tränen der Erleichterung liefen ihr über die Wangen. Grisini befreite den Stein aus seinem goldenen Käfig. Er drehte sich um und reichte ihn den Kindern, die sich an ihrem Bett versammelt hatten. Krächzend stieß Cassandra seinen Namen aus: »Gaspare!«
Die Kaminuhr schlug halb neun Uhr abends. Cassandra öffnete die Augen, diesmal hellwach: Sie war allein, alt und schwach und sie litt Schmerzen. Der Feueropal lastete schwer auf ihrem Herzen. Grisini war kein Märchenprinz, sondern der Mann, den sie am meisten hasste.
Müde setzte sie sich auf. Warum musste sie ausgerechnet von Grisini träumen? Und warum musste er dann auch noch als ihr Retter und nicht als ihr Todfeind erscheinen? Cassandra starrte grübelnd ins Leere. Schließlich schlug sie die Decken zurück und glitt aus dem Bett. Sie humpelte zum Frisiertisch, zog eine Schublade auf und nahm einen eisernen Schlüssel heraus.
Seit Tagen hatte sie ihr Schlafzimmer nicht mehr verlassen und es war Monate her, dass sie das Turmzimmer – ihre Festung – aufgesucht hatte. Cassandra hatte Strachan’s Ghyll um den alten Turm herum errichtet. Die Warnung des Architekten, dass der Bau jeden Augenblick einstürzen könne, hatte sie in den Wind geschlagen. Ihre wirkungsvollsten Zauber hatte sie im Turmzimmer ausgeführt. Es war ihre Festung und ihr Labor.
Sie schloss die Tür zum Turm auf und verriegelte sie hinter sich. Etwas umständlich gelang es ihr, ein Streichholz zu entzünden, dann schritt sie den kreisrunden Raum ab und zündete die
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