Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
Ihnen!«
Er machte einen stolpernden Schritt vorwärts, als hätte sich die Schlinge um seinen Hals gelockert. Während er durch die Straßen wankte, fluteten Bilder durch seinen Kopf. Er sollte Richtung Norden reisen. Er musste zum Bahnhof und er wusste, zu welchem. Vor seinem inneren Auge sah er die mächtigen Gewölbe und Gänge des Bahnhofs King’s Cross. Kurz tauchte sein Zielort vor ihm auf: eine Landschaft mit dunklen Bergen und silberglänzenden Seen. Eine Burg aus rotem Sandstein erhob sich vor ihm.
Grisini vernahm Schritte. Er bildete sich ein, Cassandra verfolgte ihn wie die Göttin Hekate mit ihrem Rudel Hunde, und er geriet in Panik. Links neben sich machte er eine enge Gasse aus und ging darin in Deckung. Er schlang die Arme fest um die Brust, als könnte er sich unsichtbar machen, indem er sich ganz schmal zusammendrückte. Ihm fiel auf, wie schwer er atmete. Schnell schloss er den Mund, um das Geräusch zu dämpfen.
Die Schritte gingen vorüber.
Grisini unterdrückte ein erleichtertes Keuchen. Abermals betastete er seine Wangen, um sich zu vergewissern, dass die Narben sich nicht geöffnet hatten. Plötzlich kam ihm wieder seine Verabredung mit Dr. Wintermute in den Sinn und die zehntausend Pfund, die er im Begriff war, zu verlieren. Zehntausend Pfund! Am liebsten hätte er vor Enttäuschung laut aufgeheult. Warum musste ihn Cassandra ausgerechnet jetzt rufen? Nur noch diese Nacht – nur eine Nacht – und er besäße zehntausend Pfund …
Grisini ballte die Fäuste. Wenn er sich ihrem Befehl noch drei Stunden widersetzen könnte, drei läppische Stunden, nur die Zeit, um Claras Lösegeld in Empfang zu nehmen … Früher wäre das undenkbar gewesen. Aber die Hexe war älter geworden und die Macht ihres Rufs nicht mehr so stark wie einst. Vielleicht würde es ihm gelingen.
Er spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Sein Leben lang war er ein Spieler gewesen und obwohl sein Herz vor Panik raste, genoss er auch den Nervenkitzel. Er schlug den Heimweg ein und lief jetzt doppelt so schnell wie zuvor. Er war derart auf sein Vorhaben konzentriert, dass er erst kurz vor Mrs Pinchbecks Haus den Mann bemerkte, der ihm durch die Straßen gefolgt war.
15. Kapitel
Das Treppenhaus
P arsefall probte. Er bemühte sich, den Tanz der Ballerina einzustudieren, den Grisini ihm nicht beibringen wollte. Grisini bereitete es Vergnügen, seinen Lehrling zu verspotten. Er gab bereitwillig zu, dass Parsefall den Skeletttanz gut gemeistert habe, erklärte jedoch im selben Atemzug, dass das Ballett schwieriger sei und der Finesse eines wahren Künstlers bedürfe. Diese Beleidigung nagte schwer an Parsefall und immer, wenn Grisini ins Juniper Bough aufbrach, holte er die Tänzerin aus ihrem Beutel und übte. Er war wild entschlossen, zu beweisen, dass Grisini Unrecht hatte.
Parsefall lehnte einen Spiegel an die improvisierte Wand zu Lizzie Roses Schlafkammer und richtete ihn so aus, dass er die Bewegungen der Ballerina beobachten konnte. Lieber hätte er dicht neben dem Kamin geübt, aber Lizzie Rose hatte die Ecke in Beschlag genommen. Sie hatte eine Schüssel Wasser die Treppe heraufgeschleppt und erhitzte es jetzt in einem Kessel über dem Feuer. Parsefall verdrehte die Augen. Ihr Drang, ständig irgendetwas zu waschen, erschien ihm krankhaft. Er war froh, dass er es besser wusste und seine Zeit nicht derart verschwendete.
Parsefall stellte sich auf einen Stuhl, denn er war kleiner als Grisini und die Puppenfäden waren sonst zu lang für ihn. Er hielt das Spielkreuz in die Höhe und die kleine Tänzerin schwang daran wie ein Kind auf einer Schaukel. Geduldig wartete er, bis sie reglos herabhing. Dann zog er an den Fäden und die Ballerina hob die Arme.
Parsefall summte die Melodie des Tanzes, den Blick fest auf den Spiegel geheftet. Er war nicht zufrieden. Die Puppe ruckelte bei jeder Bewegung. Sie war zwar schön ausbalanciert, aber ziemlich leicht. Hätte sie ihm gehört, hätte er schon längst ausprobiert, ihre Hüften mit zusätzlichem Gewicht zu beschweren. Parsefall brachte die Ballerina wieder ins Gleichgewicht und entspannte seine Hände. Die langsamen, geschmeidigen Bewegungen, die fließend ineinander übergingen, verlangten ein nahezu übermenschliches Maß an Feingefühl und Beherrschtheit. Er fluchte leise.
»Fluch nicht«, mahnte Lizzie Rose mechanisch. »Das ist vulgär.«
»Teufel auch, vulgär«, entgegnete Parsefall. Er wusste, dass Lizzie Rose nur so tat, als wäre sie
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