Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
hatte, war sie schon davongerauscht, wobei sie sich den würdevollen Abgang auch von ihrer widerspenstigen vierbeinigen Gefolgschaft nicht gänzlich ruinieren ließ.
12. Kapitel
Der 14. November in Kensal Green
A cht Nächte nach der Entführung seiner Tochter saß Dr. Wintermute im Mausoleum der Familie auf dem Friedhof in Kensal Green und wartete darauf, Claras Lösegeld zu bezahlen.
Von außen betrachtet, sah das Mausoleum wie eine kleine gotische Kapelle aus. Im Inneren war es eng, dunkel und bitterkalt. Schmale Fächer für Särge säumten drei der vier Wände. Dr. Wintermute saß auf dem steinernen Podest in der Mitte, das für ihn und seine Frau bestimmt war. Eines Tages würden sie hier gemeinsam in Frieden ruhen, umgeben von ihren Kindern. Vier ihrer Kinder lagen bereits hier. Jedes Mal, wenn er den Kopf wandte, sah er die Särge mit ihren sterblichen Überresten. Dr. Wintermute dachte daran, wie sehr es Clara vor diesem Ort gegraut hatte, und schob entschlossen den Unterkiefer vor. Sollte Clara lebend zu ihm zurückkehren, würde er dafür sorgen, dass sie nie mehr zu den Friedhofsbesuchen gezwungen würde.
Vor drei Tagen hatte er einen anonymen Brief erhalten. Der Verfasser hatte ihn darin angewiesen, am 14. November den Friedhof in Kensal Green aufzusuchen. Dort sollte er sich in der Familiengruft verbergen, bis es dunkel war und die Friedhofstore abgeschlossen wurden. Um Mitternacht hatte er sich dann zu der Mauer entlang des Grand Junction Canal zu begeben und zu warten, bis jemand auf der anderen Seite mit einem Stein gegen die Ziegelmauer schlug. Das Geräusch würde ihn zu der Stelle führen, an der er das Lösegeld über die gut dreieinhalb Meter hohe Mauer werfen musste.
Zum hundertsten Mal betastete Dr. Wintermute seine Brusttasche, um sich zu vergewissern, dass das Geldbündel noch da war. Zehntausend Pfund. Es war kein leichtes Unterfangen gewesen, eine solche Summe zusammenzubringen, ohne die Aufmerksamkeit der Polizei zu erregen. Er konnte nur beten, dass ihm das tatsächlich gelungen war und ihn kein Polizist auf dem Weg zum Friedhof beschattet hatte. Der Entführer hatte ihn gewarnt: Jeder Versuch, die Polizei hinzuzuziehen, würde mit Claras Tod bestraft werden.
Claras Vater war kein Dummkopf. Er wusste, dass die Gestaltung der Geldübergabe dem Entführer eine absolut vorteilhafte Position verschaffte. Dr. Wintermute konnte erst am nächsten Morgen den Friedhof wieder verlassen. Er würde keine Möglichkeit haben, einen Blick auf den Entführer seiner Tochter zu erhaschen, und er hatte nur das Wort des Unbekannten, dass er Clara freilassen würde, sobald das Lösegeld bezahlt war. Trotzdem hatte sich Dr. Wintermute entschlossen, den Anweisungen in dem Schreiben Folge zu leisten. Dem Brief war eine glänzende Locke beigelegt worden: Claras Haar. Der Anblick dieser Locke hatte ihm den letzten Funken Vernunft geraubt. Nur noch ein Gedanke beherrschte ihn: Wenn es eine Chance gab, Clara zu befreien, musste er das Lösegeld bezahlen.
Ein Lichtkegel huschte über das bunte Bleiglasfenster. Einer der Wachmänner passierte das Mausoleum. Dr. Wintermutes Lippen bewegten sich. Lautlos zählte er bis fünfhundert, um dem Mann ausreichend Zeit zu lassen, sich zu entfernen. Dann entzündete er ein Streichholz und warf einen Blick auf seine Uhr. Achtzehn Uhr neunundvierzig. Er blies die Flamme aus.
Die Zeit verstrich unendlich langsam. Neunzehn Uhr vierunddreißig … Zwanzig Uhr sieben … Er würde die Gruft eine Viertelstunde vor Mitternacht verlassen. Es waren höchstens fünf Minuten bis zu der angegebenen Stelle, doch er durfte sich nicht verspäten.
Dr. Wintermute dachte an seine Frau zu Hause am Chester Square. Ada hielt mit ihm Wache. Beinahe glaubte er, sie neben sich zu sehen: schweigend, andächtig, sämtliche Muskeln angespannt und den Blick starr auf die Uhr gerichtet. Ihre Verzweiflung über Claras Verschwinden war so groß gewesen, dass er schon gefürchtet hatte, sie würde den Verstand verlieren. Dann traf der Brief ein. Die berauschende, fast undenkbare Hoffnung, dass Clara gegen ein Lösegeld freigekauft werden könnte, hatte Ada in eine Frau verwandelt, wie er sie noch nie erlebt hatte. Sie weinte nicht mehr und strotzte vor Tatendrang und Entschlossenheit. In ihren Augen gab es nur eines zu tun: das Geld zu beschaffen und zu bezahlen. Er war derselben Meinung. Er hatte dem Inspektor versprochen, sich bei der Polizei zu melden, falls eine Lösegeldforderung
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