Claraboia oder Wo das Licht einfaellt
hinunterging. Lídia ging aus dem Haus. Maria Claudia blickte auf die Leuchtziffern ihrer Nachttischuhr. Viertel vor elf. Wieso ging Lídia um diese Zeit aus? Kaum hatte sie sich die Frage gestellt, wusste sie auch schon die Antwort. Sie lachte kühl auf, doch dann wurde ihr bewusst, wie ungeheuerlich ihr Lachen war. Plötzlich war ihr nur nach Weinen zumute. Sie zog sich die Decke über den Kopf, um ihre Schluchzer zu dämpfen. Und dann, von den Tränen und dem Mangel an Luft fast erstickt, nahm sie sich fest vor, ihren Eltern am nächsten Tag alles zu erzählen …
33
A ls Emílio viele kostspielige Amtsgänge später mit sämtlichen Dokumenten nach Hause kam, die seine Frau und sein Sohn für ihre Reise benötigten, sprang Carmen vor Freude fast in die Luft. Die Tage des Wartens waren ihr wie Jahre vorgekommen. Sie hatte Angst, ein widriger Umstand könnte sie zwingen, die Reise weiter zu verschieben, als sie in ihrer Ungeduld würde ertragen können. Doch nun gab es nichts mehr zu befürchten. Mit kindlicher Neugier blätterte sie den Pass immer wieder durch. Las jedes einzelne Wort. Alles war in Ordnung, nun musste sie nur noch den Tag der Abreise festlegen und die Eltern informieren. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie ein Telegramm geschickt und wäre schon am nächsten Tag gereist. Aber sie musste ja packen. Emílio half ihr, und die Abende, an denen sie damit beschäftigt waren, zählten zu den glücklichsten in ihrem Familienleben. Ganz unbeabsichtigt dämpfte Henrique die allgemeine Zufriedenheit, als er erklärte, er finde es schade, dass der Vater nicht mitkomme. Doch da Carmen und Emílio sich bemühten, ihn davon zu überzeugen, dass dies gar keine Rolle spiele, hatte er die kleine Eintrübung der Stimmung schnell vergessen. Wenn die Eltern fröhlich waren, dann wollte er es auch sein. Wenn die Eltern nicht weinten, während sie Kleidung und persönliche Sachen aussortierten, hatte auch er keinen Grund zum Weinen. Nach drei Abenden waren sie fertig. An den Koffern hingen bereits die Holzschilder mit Carmens Namen und dem Bestimmungsort. Emílio kaufte die Fahrkarten und sagte zu seiner Frau, abrechnen würden sie nach ihrer Rückkehr. Natürlich gab es etwas abzurechnen, denn die Schwiegereltern hatten zugesagt, die Fahrkarten zu bezahlen, und Emílio hatte sich Geld leihen müssen, um sie zu kaufen. Carmen antwortete, sowie sie angekommen seien, würde sie ihm das Geld schicken. Sie besprachen alles so friedlich, dass zu Henriques Freude die Eltern in den letzten Stunden versöhnlich miteinander umgingen und gesprächig waren wie noch nie zuvor.
Am Tag vor ihrer Abreise erfuhr Carmen, was bei Lídia geschehen war. Unter dem Vorwand, ihr eine gute Reise wünschen zu wollen, verbrachte Rosália den halben Vormittag bei ihr und erzählte von Paulinos Ärger. Sie berichtete von dem Anlass, kritisierte Lídias Verhalten und deutete an, dies sei womöglich nicht das erste Mal gewesen, dass sie Senhor Morais’ Gutgläubigkeit ausgenutzt habe. Sie pries den Chef ihrer Tochter, seine Höflichkeit und sein edles Verhalten in höchsten Tönen. Und vergaß nicht, zu erwähnen, dass Claudia schon im ersten Monat eine Gehaltserhöhung bekommen hatte.
Zunächst reagierte Carmen lediglich so betroffen wie wahrscheinlich jeder, der eine solch bedauerliche Geschichte hört. Sie stimmte Rosálias Kritik zu, beklagte wie diese den unmoralischen Lebenswandel mancher Frauen, und wie ihre Nachbarin brüstete sie sich innerlich damit, dass sie nicht so eine war. Nachdem Rosália gegangen war, merkte sie, dass sie weiter darüber nachdachte, was in Ordnung gewesen wäre, wenn sie nicht am nächsten Tag hätte abreisen müssen und wenn es sie nicht daran gehindert hätte, sich mit anderem zu beschäftigen. Welche Rolle spielte es für sie, dass Dona Lídia, über die sich zu beklagen sie im Übrigen keinerlei Grund hatte (eher im Gegenteil, sie war immer sehr höflich und schenkte Henrique für jede einfache Besorgung einen Zehner), welche Rolle also spielte es für sie, dass sie so etwas Schändliches getan hatte?
Ihre Tat an sich spielte überhaupt keine Rolle, wohl aber deren Folgen. Nach dem, was geschehen war, konnte Paulino nicht mehr zu Lídia kommen – es wäre für ihn beschämend. Auch wenn sie es nicht recht verstand, befand Carmen sich in der gleichen Situation wie Paulino oder beinahe. Zwischen ihr und ihrem Mann gab es keinen öffentlichen Skandal, aber es gab das ganze gemeinsame Leben, ein
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