Claraboia oder Wo das Licht einfaellt
oder verbergen unterschiedliche Ziele. Ich würde sogar sagen, dass Ihre Worte deren Zielen nützen, denn ich glaube nicht, dass Sie heute ein realisierbares Ziel haben. Sie geben sich mit den Worten ›Ich liebe die Menschen‹ zufrieden, wobei Sie vergessen, dass Ihre Vergangenheit mehr als eine schlichte Aussage verlangt. Sagen Sie mir bitte, was dieser Satz, selbst wenn er von Millionen Menschen ausgesprochen wird, für die Welt bedeuten kann, solange diese Millionen Menschen keinerlei Möglichkeiten haben, daraus mehr als das Ergebnis einer Gefühlsaufwallung zu machen?«
»So, wie Sie sich ausdrücken, verstehe ich fast gar nichts … Haben Sie vergessen, dass ich gesagt habe: bewusste und aktive Liebe?«
»Auch so eine Phrase. Wo ist denn Ihre Aktivität? Wo ist die Aktivität all derer, die wie Sie denken, sich aber nicht mit ihrem Altsein herausreden können, weil sie nichts tun? Wer sind sie alle?«
»Jetzt sind Sie derjenige, der mir Ratschläge gibt …«
»Den Anspruch habe ich nicht. Ratschläge nützen nichts, haben Sie das nicht selbst gesagt? Eines scheint mir richtig zu sein: Das große Ideal, die große Hoffnung, über die Sie gesprochen haben, bleiben nichts als schöne Worte, wenn wir sie mit Hilfe von Liebe verwirklichen wollen!«
Silvestre zog sich in eine Ecke des Raums zurück. Von dort aus fragte er unvermittelt:
»Was werden Sie tun?«
Abel antwortete nicht sofort. In der Stille, die nach Silvestres Worten eingetreten war, erklang von irgendwoher ein vielstimmiger Gesang.
»Ich weiß es nicht«, erklärte er. »Zurzeit bin ich nutzlos, ich akzeptiere Ihren Vorwurf, aber mir ist die vorübergehende Nutzlosigkeit lieber als Ihre Haltung.«
»Die Rollen haben sich umgekehrt. Jetzt kritisieren Sie mich …«
»Nein, ich kritisiere Sie nicht. Was Sie über die Liebe gesagt haben, ist sehr schön, nützt mir aber gar nichts.«
»Ich habe vergessen, dass zwischen uns ein Altersunterschied von vierzig Jahren besteht … Sie konnten mich gar nicht verstehen …«
»Und der Silvestre von vor vierzig Jahren hätte Sie auch nicht verstanden, mein Freund.«
»Sie meinen, es ist das Alter, das mich so denken lässt?«
»Vielleicht«, Abel lächelte. »Das Alter vermag viel. Mit dem Alter kommt Erfahrung, aber auch Überdruss …«
»Wenn man Sie so hört, käme keiner darauf, dass Sie bis heute nichts anderes getan haben, als einzig für sich zu leben …«
»Das stimmt. Aber warum sollte man mir das vorwerfen? Vielleicht braucht der Lernprozess bei mir mehr Zeit, vielleicht muss das Leben mir mehr Wunden schlagen, bis ich wirklich zu einem Mann heranreife … Vorläufig bin ich einer, den man als nutzlos bezeichnet hat und der geschwiegen hat, weil er wusste, dass es zutraf. Aber das wird nicht immer so sein …«
»Was haben Sie vor, Abel?«
Abel stand langsam auf und ging auf Silvestre zu. Zwei Schritte vor ihm sagte er:
»Etwas ganz Einfaches: leben. Wenn ich jetzt hier ausziehe, werde ich sicherer sein als zu dem Zeitpunkt, da ich eingezogen bin. Nicht, weil ich den Weg einschlagen will, den Sie mir gezeigt haben, sondern weil Sie mir klargemacht haben, dass ich meinen eigenen Weg finden muss. Es ist eine Frage der Zeit …«
»Ihr Weg wird immer der Pessimismus sein.«
»Daran habe ich keinen Zweifel. Ich wünsche mir nur, dass dieser Pessimismus mich vor bequemen, einlullenden Illusionen wie Liebe bewahrt …«
Silvestre packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn.
»Abel! Alles, was nicht auf Liebe gebaut ist, bringt Hass hervor!«
»Sie haben recht, mein Freund. Aber vielleicht muss es eine gewisse Zeit lang so sein … Der Tag, an dem es möglich sein wird, auf Liebe zu bauen, ist noch nicht gekommen …«
Über José Saramago
Foto: Isolde Ohlbaum
José Saramago ( 1922 – 2010 ) wurde im portugiesischen Azinhaga geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums arbeitete er als Maschinenschlosser, technischer Zeichner und Angestellter. Später war er Mitarbeiter eines Verlags und Journalist bei Lissabonner Tageszeitungen. Ab 1966 widmete er sich verstärkt der Schriftstellerei. Während der Salazar-Diktatur gehörte er zur Opposition. Der Romancier, Erzähler, Lyriker, Dramatiker und Essayist erhielt 1998 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hoffmann und Campe erschienen u.a.
Die Reise des Elefanten
,
Kain
,
Das Tagebuch
und der Gedichtband
Über die Liebe und das Meer
.
Impressum
Copyright © 2011 by the Estate of José Saramago and Editorial Caminho,
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