Claraboia oder Wo das Licht einfaellt
nichts anderes erwarten kann?«
»Ja, das stimmt …«
Nach dem Abendessen erklärte Claudia, sie habe Kopfschmerzen und gehe schlafen. Da sie nun keine Rücksicht mehr nehmen mussten, sahen die Eltern sich an, schüttelten den Kopf und machten gleichzeitig den Mund auf, um zu reden. Dann machten sie ihn wieder zu und warteten darauf, dass der andere etwas sagte. Schließlich ergriff Anselmo das Wort.
»So sind die Nutten wohl, oder?«
»Die kennen keine Scham …«
»Ihm mache ich keinen Vorwurf. Er ist ein Mann und nutzt die Gelegenheit … Aber sie, wo sie all die schönen Sachen in der Wohnung hat?!«
»Schöne Kleider, schöne Pelze, schönen Schmuck …«
»Ich sage es dir: Wenn eine einmal einen Fehltritt begeht, dann begeht sie auch den zweiten und den dritten … Das haben die im Blut. Die denken immer nur an Unanständiges!«
»Wenn es denn beim Denken bliebe!«
»Ausgerechnet mit dem Untermieter vom Schuster, sozusagen vor den Augen von Senhor Morais!«
»Dafür muss man wirklich schamlos sein!«
All dies musste ausgesprochen werden, denn die Entscheidung konnte erst getroffen werden, wenn genau geklärt war, wer Schuld hatte. Anselmo griff zum Messer und schob die Krümel zusammen. Als hinge davon die Sicherheit des Gebäudefundaments ab, sah Rosália ihm aufmerksam zu.
»So, wie die Dinge stehen«, sagte Anselmo, nachdem er die Krümel eingesammelt hatte, »müssen wir Stellung beziehen …«
»Genau …«
»Wir müssen etwas tun.«
»Das meine ich auch …«
»Claudia darf mit dieser Frau keinen Umgang mehr haben. Die wäre ein schlechtes Vorbild für sie.«
»Ich würde es auch gar nicht erlauben. Gerade wollte ich das ansprechen.«
Anselmo nahm die Schüssel hoch und fegte wieder Krümel zusammen. Er schob sie zu den anderen und erklärte:
»Und was uns betrifft, mit dieser schamlosen Person wird nicht mehr gesprochen. Auch nicht gegrüßt. So als wäre sie Luft.«
Sie waren sich einig. Rosália begann, das schmutzige Geschirr abzuräumen, und Anselmo holte das Album aus der Küchenschrankschublade. Es wurde ein kurzer Abend. Aufregung macht müde. Das Ehepaar zog sich ins Schlafzimmer zurück und setzte dort die ernsthafte Erörterung ihres Verhaltens gegenüber Lídia fort. Sie kamen zum folgenden Schluss: Es gibt Frauen, die sollten vom Antlitz dieser Erde verschwinden, es gibt Frauen, deren Existenz sich wie ein Schandfleck im Kreis anständiger Leute ausbreitet …
Claudia konnte nicht schlafen. Und es waren nicht die Kopfschmerzen, die sie am Schlafen hinderten. Sie dachte an das Gespräch mit dem Chef zurück. Die Sache hatte sich nicht ganz so abgespielt, wie sie es den Eltern erzählt hatte. Sie hatte alles völlig mühelos in Erfahrung bringen können, doch was danach gekommen war, das ließ sich nicht so einfach erzählen. Es war nichts Ernstes passiert, nichts, was, genau besehen, nicht erzählt werden konnte oder durfte. Aber es war schwierig. Nicht alles ist, was es zu sein scheint, und nicht alles scheint zu sein, was es ist. Doch zwischen Sein und Schein gibt es immer eine Verbindung, als wären Sein und Schein zwei schräge Ebenen, die aufeinander zulaufen und ineinander übergehen. Es gibt eine Neigung, die Möglichkeit, darauf hinunterzurutschen, und wenn das geschieht, gelangt man an den Punkt, an dem man Sein und Schein gleichzeitig berührt.
Claudia hatte gefragt und Antwort erhalten. Nicht sofort, denn Paulino hatte viel zu tun und konnte ihr nicht auf der Stelle die gewünschten Erklärungen geben. Sie musste bis sechs Uhr warten. Die Kollegen gingen nach Hause, sie blieb. Paulino ließ sie in sein Büro kommen und in dem Sessel Platz nehmen, der für wichtige Kunden der Firma vorgesehen war. Der Sessel war niedrig und gut gepolstert. Claudia, die sich nicht mit der jüngsten Mode der langen Röcke abgefunden hatte, rutschte der Rock bis zu den Knien hinauf. Das weiche Polster umfing sie wie ein Schoß. Der Chef ging zweimal im Büro auf und ab, dann setzte er sich schließlich auf eine Schreibtischecke. Er trug einen hellgrauen Anzug mit einer gelben Krawatte, was ihn jünger aussehen ließ. Er zündete sich einen Zigarillo an, und die bereits stickige Luft im Raum wurde noch drückender. Bald würde sie keine Luft mehr bekommen. Lange Minuten verstrichen, dann sprach Paulino. Die Stille, nur vom Ticken einer feierlichen Standuhr unterbrochen, wurde Maria Claudia immer unbehaglicher. Der Chef fühlte sich offenbar wohl. Der Zigarillo war schon
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