Clarissa Alaska-Saga 04 - Allein durch die Wildnis
geheimnisvollen Kräften, und wusste mehr als alle Menschen und Tiere. Warum er nicht verhindert hatte, dass sie in die Gewalt von Thomas Whittler geriet und er sie mit zwei gefährlichen Killern verfolgte, und warum er Dezba nicht von ihr ferngehalten hatte, wusste sie nicht. Bones war unberechenbar, hatte anscheinend den Auftrag, nicht ständig in den Kreislauf des Lebens einzugreifen. So wie der listige Rabe, der wunderbare Tricks auf Lager hatte und gemeine Streiche spielen konnte.
Sie war unfähig, den Gedanken weiterzuspinnen, und ließ sich in den dunklen Nebel fallen. Die Nähe des Geisterwolfs beruhigte sie. Bones wärmte sie mit seinem dichten Fell, veränderte alle paar Minuten seine Stellung, um jeden Teil ihres halb nackten Körpers zu erreichen, und kuschelte sich so dicht an sie, als würde sie unter mehreren Fellen und Wolldecken liegen. Niemals zuvor war sie ihm so nahe gewesen. Mit seinen magischen Kräften schien er die Kälte aus der Höhle zu vertreiben und eine Wärme zu entfachen, die ihr vielleicht sogar das Leben rettete. Erst als ihr Körper wieder warm war, zog er mit den Zähnen die Decken und den Anorak über sie und ließ sie allein.
Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als sie wieder aufwachte. Draußen war es dunkel. Die Huskys lagen beim Schlitten und rührten sich nicht. Nur Emmett hob den Kopf und winselte leise, er sorgte sich wohl um sie und wollte sichergehen, dass ihr nichts passiert war. Ihn und die anderen Hunde hatte eine seltsame Lähmung befallen, als die Hexe in die Höhle gekommen war, wie von Zauberhand waren ihre Muskeln erschlafft und hatten sie sogar daran gehindert, die Fremde anzubellen. Vor Bones hatten sie sich geduckt. Jeder Wolf war ihnen überlegen, erst recht ein Geisterwolf, und Bones kannten sie schon, seitdem sie ihm vor Alex’ Hütte begegnet waren.
»Schon gut, Emmett!«, rief Clarissa. Kein heiseres Krächzen mehr. »Mach dir keine Sorgen! Ich bin okay! Ich bin …« Bei dem Gedanken an ihr neugeborenes Baby schossen ihr erneut Tränen in die Augen. Das hilflose Kind in den Armen einer mächtigen Hexe zu wissen, raubte ihr fast den Verstand. Es gab Hexen, indianische Medizinfrauen, die ihre Kräfte missbrauchten, um andere Menschen ins Unglück zu stürzen. Sie tauchten nicht nur in Legenden auf.
Von heftigem Schluchzen geschüttelt, schlug sie mehrmals mit der Faust auf den Boden, bis ihre Tränen versiegten und sie sich wieder einigermaßen in der Gewalt hatte. Denn was nützte alles Schluchzen und Schimpfen, wenn sie nicht wenigstens versuchte, die Hexe zu verfolgen und ihr Baby zurückzuholen? Sie musste es versuchen, und wenn es das Letzte war, was sie in ihrem Leben anging. Nur mit Emily konnte sie Alex unter die Augen treten, nur mit ihrer kleinen Tochter war ihr Glück vollkommen. Selbst wenn Thomas Whittler und seine Handlanger ihr dicht auf den Fersen waren, durfte sie nicht klein beigeben. Wenn sie ihr jetzt nicht folgte, würde man sie nie mehr aufspüren!
Sie starrte eine Weile zur Höhlendecke empor, bis sie genug Kraft gesammelt hatte, und stand auf. Eine ganze Weile stand sie schwankend neben dem niedergebrannten Feuer. Ohne ihren gewölbten Bauch kostete es sie einige Mühe, ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Sie griff nach ihrer Unterwäsche, die mit Blut verschmiert, aber inzwischen wieder getrocknet war, und streifte sie über, zog ihre Wollhosen und den Anorak an und schlüpfte in die Stiefel. Aus alter Gewohnheit, aber auch im Angesicht der drohenden Gefahr, überprüfte sie ihren neuen Revolver und steckte ihn in die Tasche zurück. Um ihr Baby zu bekommen, würde sie nicht davor zurückschrecken, ihn zu benutzen.
Nachdem sie ihre Pelzmütze aufgesetzt und die Handschuhe angezogen hatte, ging sie zu den Huskys und kniete neben Emmett nieder. »Jetzt kommt es auch auf euch an«, sagte sie. »Wir müssen diese Hexe unbedingt finden! In den Legenden heißt es, sie wohnt jenseits des Yukon im Norden, also folgen wir ihr, und wenn wir bis zum Nordpol fahren müssen, um Emily zurückzuholen.« Es kam ihr gar nicht in den Sinn, dass es auch ein Junge sein könnte.
Sie schob den Schlitten zum Ausgang und warf einen prüfenden Blick in die Runde. Was ihr sonst wie der Inbegriff der Schöpfung vorkam, die verschneite Landschaft unter einem sternenklaren Himmel, wirkte plötzlich furchteinflößend und bedrohlich. Das blasse Licht des Mondes, normalerweise sanft und verzaubernd, lag wie ein Leichentuch über den Hügeln
Weitere Kostenlose Bücher