Clarissa Alaska-Saga 04 - Allein durch die Wildnis
Hunde von den Leinen zu lösen und mit dem Holz, das von ihrer letzten Rast übrig war, ein Feuer zu entfachen. Sie breitete die Decken aus und sank zu Boden. Mit letzter Kraft befreite sie sich von ihren Wollhosen, dem Anorak und der Unterwäsche.
Der Schmerz, der sie im Schein des flackernden Feuers hochfahren ließ, war so stark, dass sie glaubte, in zwei Hälften zu zerrreißen. Eine heftige Wehe durchlief ihren Körper. Sie spürte, wie ihre Fruchtblase platzte und das Wasser an ihren Beinen herunterlief, ein deutliches Zeichen, dass die Geburt ihres Kindes unmittelbar bevorstand. »Oh nein!«, flüsterte sie entsetzt. »Nicht hier … nicht jetzt!« Wieder zog sich ihr Unterleib zusammen und ließ sie vor Schmerz stöhnen. Pressen, pressen, wenn du merkst, dass es so weit ist, musst du pressen! Ein Satz, den sie als junges Mädchen aufgeschnappt hatte, wahrscheinlich bei der Geburt ihrer Nichte, die sie durch eine geschlossene Tür miterlebt hatte. »So ist es gut, meine Liebe, weiter so!«
Hätte sie doch damals durchs Schlüsselloch geblickt und dabei zugesehen, wie die Hebamme ihrer Tante geholfen hatte! Wie beinahe jede Frau wusste sie, was bei einer Geburt zu tun war, aber das meiste Wissen hatte sie aus Büchern und Erzählungen, und ihre Schmerzen waren so groß, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Sie hatte auf Dolly vertraut, die schon bei einigen Geburten assistiert hatte und ihr sicher eine große Hilfe gewesen wäre. Auf Alex, der vor dem Schlafraum nervös auf- und abgelaufen wäre, einen Kaffee nach dem anderen getrunken und sie und ihr Baby nach der Geburt freudestrahlend in die Arme geschlossen hätte. Ausgerechnet jetzt, in einem der wichtigsten Momente ihres Lebens, war sie allein wie selten zuvor.
Wieder verkrampfte sich ihr Unterleib. Die Wehen kamen jetzt in kürzeren Abständen und bereiteten ihr solche Schmerzen, dass sie beinahe das Bewusstsein verlor. Hoffentlich lag ihr Baby richtig, hoffentlich gab es keine Komplikationen! Sie rieb sich den Schweiß von der Stirn. Sie hatte eine Heidenangst, nicht nur vor einer schmerzhaften Geburt, auch vor Thomas Whittler und seinen Handlangern, die vielleicht ihre Schreie gehört hatten und schon auf dem Weg in ihr Versteck waren. War der Millionär so von seinem Hass beseelt, dass er eine werdende Mutter kaltblütig umbringen würde? Waren seine Wachhunde so geldgierig und ihm so treu ergeben, dass auch sie vor einem so grausamen Verbrechen nicht zurückschrecken würden? Wer sich im hohen Norden an einer Frau vergriff, wurde von allen gejagt, nicht nur vom Gesetz. Und wenn man sie in die Berge verschleppte und zwischen den Felsen liegen ließ? Jeder würde denken, sie hätte ihren Tod selbst verschuldet.
Die Wehen ließen ihr kaum noch Ruhe. Ihr Körper krümmte sich vor Schmerzen und ließ sie immer lauter und verzweifelter stöhnen. Sie bekam ein trockenes Holzscheit zu fassen und schob es sich zwischen die Zähne. Das Holz half ihr, die Schreie zu unterdrücken. Sie durfte Thomas Whittler und seine Männer nicht in ihr Versteck locken. Leise weinte sie. Warum war eine Geburt so schmerzhaft? Warum musste eine Frau leiden, wenn sie ein Baby bekam? Wollte Gott ihr damit sagen, dass wirkliches Glück nur möglich war, wenn man vorher unvorstellbare Schmerzen durchlitten hatte?
Sie schloss die Augen und fühlte auf einmal eine kühle Hand auf ihrer Stirn. So sanft und behutsam lag sie auf ihrer Haut, dass sie plötzlich von einem seltsamen Frieden erfüllt war, der sie den Schmerz kaum noch spüren ließ. Die Hand strich über ihre Wangen, zuerst links und dann rechts und grub sich in ihre Schultern, als wäre es ihr auf diese Weise möglich, neue Kraft in ihren Körper zu leiten. Ein Lied erklang, ein indianisches Kinderlied, das sie während ihres Aufenthaltes in einem Indianerdorf fast jeden Abend gehört hatte, eine einfache Weise, die dem Kind eine ruhige und friedvolle Nacht versprach.
Sie öffnete dankbar die Augen und erkannte die Umrisse einer Frau. Die Fremde saß abseits des Feuers und war nur schemenhaft zu erkennen, lediglich ihre leuchtenden Augen sah man im Halbdunkel der Höhle. »Schlaf ein, schlaf ein, mein Herzenskind, die bösen Feinde ferne sind …«, sang sie in ihrer Sprache. Eine unglaubliche Ruhe ging von der Fremden aus, ein eigenartiger Zauber, der sogar die Huskys in ihren Bann zu ziehen schien. Nur Emmett knurrte, er schien etwas an der Fremden entdeckt zu haben, das ihm missfiel.
Clarissa hob den
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