Clarissa
Jocelins Gesicht bohrten.
Clarissa, immer noch betäubt von der Wucht, mit der Raine sie zu Boden geschleudert hatte, schob ihre Arme in die Ärmel ihres Hemds, als sie sah, wie Raine sein Schwert zog, und brüllte: »Nein! « Ihre Stimme war laut genug, daß sie den Nachttau von den Zweigen der Bäume schüttelte. Gib mir Kraft, das durchzustehen, betete sie, während sie sich vom Boden erhob.
Sie stellte sich vor Jocelin. »Ich werde mein Leben für diesen Mann opfern«, sagte sie gefühlvoll. Sie sah, wie Raines Gesicht sich veränderte, von Betroffenheit über Schmerz, von Wut zu eisiger Entschlossenheit. Sie spürte jede Phase der Verwandlung in ihrem Herzen.
»Bin ich ein Narr gewesen? « fragte er leise.
»Männer sind wie Musik«, sagte sie so leichthin, wie sie es fertigbrachte. »Ich kann nicht nur von einseitiger Kost leben, nur von Liebesliedern oder Trauergesängen. Ich brauche Abwechslung. Ich kann mich nicht nur auf eine Gattung beschränken, und das gilt sowohl für meine Lieder wie auch für Männer. Du, ah, du bist ein mächtiger, brausender Choral mit Zimbeln und Trommeln, während Joss« — sie bewegte flatternd die Wimpern — »Joss eine Melodie für Flöten und Harfen ist. «
Eine Sekunde lang dachte sie, Raine wollte ihr den Kopf vom Körper reißen, und statt sich vor ihm zu fürchten, sehnte sie sich fast danach. Ihre Seele betete, daß er ihr nicht glauben würde. Konnte er tatsächlich annehmen, daß die Musik ihr mehr bedeutete als er?
»Geh mir aus den Augen«, flüsterte er mit einer Stimme, die tief aus seinem Inneren kam. »Laß… deinen Freund in Zukunft für dich sorgen. Brich noch heute abend auf. Ich möchte dich nicht Wiedersehen. «
Damit wandte er sich von ihr ab, und Clarissa war ihm schon ein paar Schritte nachgelaufen, ehe Joss ihr in den Arm fiel. »Was kannst du ihm noch sagen außer der Wahrheit? « fragte er leise. »Laß ihn in Ruhe. Zerreiße jetzt das Band. Warte hier, und ich werde in kurzer Zeit wieder zurückkommen. Hast du noch andere Kleider oder Habseligkeiten? «
Sie schüttelte stumm den Kopf und merkte gar nicht, wie Jocelin sie verließ.
Sie schien keinen Gedanken fassen zu können, während sie auf seine Rückkehr wartete. Raine glaubte ihr, glaubte, sie betrachtete ihre Musik als eine so überaus wichtige Sache. Die Leute im Lager waren bereit, zu glauben, sie sei ein Dieb, und drängten auf ihre Bestrafung. Doch was hatte sie schon in ihrem Leben getan, damit jemand ihr vertraute und glaubte, daß sie ein guter Mensch sei?
»Bist du bereit? « fragte Jocelin neben ihr. Rosamund war ein stummer Schatten hinter ihm.
»Es tut mir leid, daß ich dir solche Ungelegenheiten… « begann sie.
»Nichts mehr davon«, sagte Joss entschieden. »Wir müssen jetzt an die Zukunft denken. «
»Rosamund, du wirst dich um ihn kümmern, ja? Dafür sorgen, daß er ißt? Daß er nicht zu hart trainiert? «
»Raine wird auf mich nicht so hören wie auf dich«, sagte sie mit ihrer weichen Stimme, während ihre Augen Jocelin verschlangen.
»Küsse sie«, flüsterte Clarissa. »Jemand sollte doch seine Liebe offen zeigen können, statt sie zu verstecken. «
Damit wandte sie sich ab, und als sie über die Schulter sah, klammerte Rosamund sich verzweifelt an Jocelin. Mit Staunen auf dem Gesicht kam er dann an Clarissas Seite.
»Sie liebt dich«, sagte Clarissa lakonisch, ehe sie ihren langen Weg zum Waldrand antraten.
Zweiter Teil August 1502
Kapitel 12
Clarissa stemmte die Hand ins Kreuz und ließ sich auf einem mit Gras bewachsenen Erdhügel dicht neben der Straße nieder. Mit einem dankbaren kleinen Lächeln sah sie zu Joss auf, als er ihr einen Becher mit kaltem Wasser reichte.
»Wir werden hier über Nacht rasten«, sagte er, während er besorgt ihr von Müdigkeit gezeichnetes Gesicht betrachtete.
»Nein, wir müssen heute abend spielen — wir brauchen das Geld. «
»Und noch dringender brauchst du Ruhe! « sagte er gereizt und setzte sich dann neben sie. »Du gewinnst. Du gewinnst immer. Hungrig? «
Clarissa blickte ihn an, bis er lächelnd hinuntersah auf ihren starken Leib, über den sich die Wolle ihres Gewandes spannte. Die Sommerhitze und die endlosen Fußmärsche setzten Clarissa arg zu.
Es waren jetzt mehr als vier Monate vergangen, seit sie Raines Lager verlassen hatten, und in dieser Zeit waren sie fast immer unterwegs. Zunächst war ihnen das Wandern nicht schwergefallen. Sie waren beide kräftig und gesund und als Musikanten überall
Weitere Kostenlose Bücher