Clark Mary Higgins
Kleider.
Sie erinnerte sich, wie verärgert Myles gewesen war, als er
bei ihrer Weihnachtsparty damals in der Küche auf Ethel Lambston gestoßen war, die ungeniert in Renatas Kochbüchern blätterte.
»Interessieren Sie sich fürs Kochen?« hatte er sie eisig gefragt.
Natürlich hatte Ethel seine Verärgerung nicht bemerkt. »Ganz
und gar nicht«, antwortete sie unbekümmert. »Aber ich kann
Italienisch lesen und habe zufällig die Bücher entdeckt. Questi
disegni sono stupendi! «
Sie hatte ihm das Buch mit den Zeichnungen hingehalten, und
Myles hatte es ihr aus der Hand genommen. »Meine Frau war
Italienerin. Ich selber spreche die Sprache nicht.«
Genau da hatte Ethel erkannt, daß Myles Witwer und ohne feste Bindung war, und sich den ganzen Abend an ihn gehängt.
Neeve war mit ihren Vorbereitungen schließlich fertig. Sie
stellte die Gerichte in den Kühlschrank, räumte die Küche auf
und deckte den Tisch im Eßzimmer. Die ganze Zeit beachtete
sie ihren Vater überhaupt nicht. Er saß in seinem Zimmer vor
dem Fernseher. Als sie zuletzt noch die Platten und Schüsseln
auf der Anrichte bereitgestellt hatte, kamen gerade die Elf-UhrNachrichten.
Myles hielt ihr ein Glas Kognak hin. »Wenn deine Mutter wütend auf mich war, hat sie auch einen Heidenlärm mit den Kochtöpfen und Pfannen gemacht.« Sein Lächeln war jungenhaft
verlegen. Es war seine Entschuldigung.
Neeve nahm den Kognak an. »Schade, daß sie sie dir nicht an
den Kopf geschmissen hat.«
Sie mußten beide lachen. In diesem Augenblick läutete das
Telefon. Myles nahm den Hörer ab. Seinem freundlichen »Hallo« folgte ein Trommelfeuer von Fragen. Neeve sah, wie sein
Mund hart wurde. Als er den Hörer wieder auflegte, sagte er mit
tonloser Stimme: »Das war Herb Schwartz. Einer unserer Leute
war in Nicky Sepettis engsten Kreis eingeschleust worden. Man
hat ihn gerade auf einer Müllhalde gefunden. Er lebt noch, und
es besteht Aussicht, daß er durchkommt.«
Neeve bekam einen trockenen Mund, als sie ihm zuhörte. Myles’ Gesicht war verzerrt, aber sie konnte den Ausdruck nicht
recht deuten. »Er heißt Tony Vitale«, sagte Myles. »Er ist dreiunddreißig. Bei ihnen nannte er sich Carmen Machado. Man hat
vier Schüsse auf ihn abgegeben. Eigentlich müßte er tot sein,
aber irgendwie klammerte er sich ans Leben. Er mußte uns unbedingt Mitteilung von irgend etwas machen.«
»Und was war das?« flüsterte Neeve. »Herb ist auf der Notfallstation gewesen. Tony sagte zu ihm: ›Kein Kontrakt, Nicky,
Neeve Kearney‹.« Myles schlug die Hände vors Gesicht, als
wolle er so sein Mienenspiel verbergen.
Neeve starrte ihn an. »Du hast doch nicht im Ernst geglaubt,
daß ein Kontrakt bestünde?«
»Oh, doch.« Myles’ Stimme wurde lauter. »Doch, das habe
ich geglaubt. Und jetzt kann ich zum erstenmal seit siebzehn
Jahren ruhig schlafen.« Er legte ihr die Hände auf die Schultern.
»Neeve, sie sind zu Nicky gegangen, um ihn auszufragen. Unsere Leute. Und sie sind gerade rechtzeitig gekommen, um ihn
sterben zu sehen. Der elende Schweinehund hat einen Herzschlag bekommen. Er ist tot, Neeve. Nicky Sepetti ist tot!«
Er nahm sie in die Arme, und sie spürte das wilde Klopfen
seines Herzens.
»Dann soll sein Tod dich jetzt befreien, Vater«, flehte sie.
Unbewußt hatte sie sein Gesicht in ihre Hände genommen und
erinnerte sich dann, daß dies auch die liebevolle Geste ihrer
Mutter gewesen war. Ganz bewußt ahmte sie Renatas Tonfall
nach: » Caro Milo, hör doch auf mich.«
Sie brachten alle beide ein wehmütiges Lächeln zustande.
»Ich will mir Mühe geben. Ich verspreche es«, sagte Myles.
Polizeidetektiv Anthony Vitale, der unter dem Namen Carmen Machado in die Verbrecherfamilie Sepetti eingeschleust
worden war, lag in der Intensivstation des St.-VincentKrankenhauses. Die Kugeln waren in seiner Lunge steckengeblieben, hatten ein paar Rippen zersplittert und ihm die linke
Schulter zertrümmert. Wie durch ein Wunder war er noch am
Leben. Schläuche waren in seinen Körper geführt und tropften
Antibiotika und Glukose in seine Venen. Ein Atemgerät hatte
die Funktion der Lungen übernommen.
Von Zeit zu Zeit erlangte er das Bewußtsein wieder; dann sah
er die besorgten Gesichter seiner Eltern. Ich bin zäh. Ich setze
alles daran, um durchzukommen, hätte er sie gerne getröstet.
Wenn er nur sprechen könnte! War er wohl imstande gewesen, irgend etwas zu sagen, als sie ihn gefunden hatten? Er hatte
versucht, sie wegen des Kontrakts
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