Clark Mary Higgins
oberflächliche
Durcheinander und ist abgestoßen. Ethel benimmt sich immer so
unberechenbar, daß man vergißt, was für einen scharfen
Verstand sie hat.«
An der Wand neben der Wohnungstür hingen Ethels zahllose
Pressefotos. Die Hand schon auf der Türklinke, blieb Neeve
stehen und betrachtete sie aufmerksam. Auf den meisten Bildern
sah Ethel so aus, als sei sie mitten in einem Satz fotografiert
worden. Der Mund war immer ein wenig geöffnet, die Augen
blitzten vor Energie, ihre Gesichtsmuskeln waren sichtlich in
Bewegung.
An einem Schnappschuß blieb Neeves Blick hängen. Ethels
Gesichtsausdruck war ruhig, der Mund geschlossen, die Augen
blickten traurig. Was hatte ihr Ethel einmal anvertraut? »Ich bin
am Valentinstag geboren. Leicht zu behalten, nicht wahr? Aber
wissen Sie, wie viele Jahre es her ist, daß mir irgend jemand
eine Karte geschrieben oder sich die Mühe gemacht hat, mich
anzurufen? Ich kann mir selber ›Happy Birthday‹ vorsingen.«
Neeve hatte vorgehabt, Ethel am vergangenen Valentinstag
Blumen zu schicken und sie zum Lunch einzuladen, aber dann
war sie in dieser Woche gerade in Vail im Skiurlaub gewesen.
Es tut mir leid, Ethel, dachte sie. Es tut mir ehrlich leid.
Es kam ihr so vor, als ob die traurigen Augen auf dem
Schnappschuß ihr nicht vergaben.
Nach seiner Schrittmacher-Operation hatte Myles sich angewöhnt, am Nachmittag einen langen Spaziergang zu machen.
Was Neeve nicht wußte, war, daß er seit vier Monaten auch zu
einem Psychiater ging. »Sie leiden an Depressionen«, hatte ihm
der Herzspezialist ins Gesicht gesagt. »Das tun die meisten Leute
nach einer solchen Operation. Das gehört dazu. Ich vermute aber,
daß es bei Ihnen auch noch andere Ursachen haben könnte.« Er
hatte nicht lockergelassen, bis Myles sich bei Dr. Adam Felton
anmeldete. Donnerstag um zwei Uhr war seine übliche Zeit. Er
haßte die Vorstellung, auf einer Couch zu liegen, und setzte sich
lieber in einen tiefen Ledersessel. Adam Felton war nicht der typische Psychiater, wie Myles ihn sich vorgestellt hatte. Er war
Mitte vierzig, mit Bürstenschnitt, einer leicht verrückten Brille
und einem schlanken, drahtigen Körper. Nach der dritten oder
vierten Konsultation hatte er Myles’ Vertrauen gewonnen. Dieser
hatte nicht mehr das Gefühl, sich seelisch zu entblößen. Die Gespräche mit Felton waren für ihn eher wie ein Rückversetzen in
den Bereitschaftsraum der Polizei, wenn er seinen Leuten alle
Gesichtspunkte einer Untersuchung auseinandergesetzt hatte.
Merkwürdig, dachte er, während er zusah, wie Felton einen
Bleistift zwischen den Fingern drehte, daß mir nie in den Sinn
gekommen ist, mich lieber Dev gegenüber auszusprechen. Aber
dies war ja keine Beichte. »Ich wußte gar nicht, daß Psychiater
nervöse Angewohnheiten haben dürfen«, bemerkte er trocken.
Adam Felton lachte und zwirbelte den Bleistift extra noch
einmal kräftig herum. »Ich habe alles Recht auf einen nervösen
Tick, wenn ich schon das Rauchen aufgegeben habe. Sie wirken
heute ja mächtig aufgekratzt.« Es hätte eine beiläufige Bemerkung zu einem guten Bekannten auf einer Cocktailparty sein
können.
Myles sagte ihm, daß Nicky Sepetti tot sei, und als Felton ihm
weitere bohrende Fragen stellte, rief er: »Dieses Thema haben
wir doch bereits besprochen! Siebzehn Jahre lang habe ich mit
dem Gefühl gelebt, daß Neeve etwas zustoßen müßte, sobald
Sepetti entlassen würde. Ich habe Renata gegenüber versagt.
Wie oft muß ich Ihnen denn das noch sagen! Ich habe Nickys
Drohung nicht ernst genommen! Er war ein kaltblütiger Killer.
Er war keine drei Tage draußen, als unser Mann erschossen
wurde. Vermutlich hatte Nicky ihn erkannt. Er sagte immer, er
könne jeden Polizisten wittern.«
»Und jetzt haben Sie das Gefühl, daß Ihre Tochter nicht mehr
in Gefahr ist?«
»Ich weiß, daß sie es nicht mehr ist. Unser Mann war noch in
der Lage, uns zu sagen, daß es keinen Mordkontrakt auf Neeve
gibt. Sie müssen es unter sich besprochen haben. Ich weiß, daß
die anderen sich auf so etwas nicht einlassen würden. Sie waren
sowieso dabei, Nicky hinauszudrängen. Sie werden froh sein,
daß sie ihn in ein Leichentuch wickeln können.«
Adam Felton fing wieder an, mit dem Bleistift zu spielen,
hielt dann ein und ließ ihn entschlossen in den Papierkorb fallen.
»Sie sagen, daß Sepettis Tod Sie von einer Angst befreit hat, die
Sie siebzehn Jahre lang verfolgte. Was bedeutet das jetzt für
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