Claudius Bombarnac
Kura-Ufers hinan, um einen Ueberblick über die Stadt zu gewinnen.
Auf dem Gipfel des Hügels, einem kleinen Platze, wo ein Gesangs-Declamator unter ausgiebigen Gesten Verse von Saadi, dem berühmten persischen Dichter, ableiert, überlasse ich mich der Betrachtung der transkaukasischen Hauptstadt. Was ich hier thue, beschließe ich, nach vierzehn Tagen in Peking zu wiederholen. An Stelle der Pagoden und Yamens des Himmlischen Reiches zeigt Tiflis meinen Blicken Mauern von Citadellen, Glockenthürme von Kirchen verschiedener Bekenntnisse, eine Metropolitankirche mit Doppelkreuz und Häuser von russischer, persischer oder armenischer Bauart; wenig Dächer, dafür mehr Terrassen; wenig verzierte Façaden, dafür breite Balcons in allen Stockwerken; ferner zwei deutlich abgegrenzte Theile, den niederen mit georgischem Charakter, und den höheren moderneren, durchschnitten von einer mit schönen Bäumen besetzten Alleestraße, in der sich der Palast des Fürsten Bariatinsky erhebt. Das Ganze ein regelloses, launisches, fast einzig in seiner Art dastehendes Relief, ein Wunder von Unregelmäßigkeit, das der Horizont mit großartiger Gebirgsumrahmung abschließt.
Es ist bald fünf Uhr. Ich habe keine Zeit mehr, mich dem Redestrome des Erzählers und Bildermalers zu überlassen. Eilen wir hinunter nach dem Bahnhofe.
Hier drängt sich eine bunte Menge von Armeniern, Georgiern, Mingreliern, Tataren, Kurden, Israeliten, Russen vom Strande des Caspischen Meeres, von denen die Einen – o, diese orientalischen Farben! – Fahrkarten bis nach Baku, die Anderen solche nach Zwischenstationen lösen.
Jetzt war ich mit allem Nöthigen ausgerüstet. Weder der Schalterbeamte mit dem Gendarmengesicht, noch die Gendarmen in eigener Person konnten meiner Abfahrt noch ein Hinderniß bereiten.
Man händigt mir ein bis Baku giltiges Billet erster Classe aus. Ich begebe mich nach dem Perron, der den Zutritt nach den Waggons vermittelt. Nach alter Gewohnheit acht’ ich darauf, mich in der Ecke eines Coupés bequem einzurichten. Gleichzeitig steigen noch einige Reisende ein, während der kosmopolitische Schwarm die Wagen zweiter und dritter Classe anfüllt. Nach stattgefundener Billetcontrole werden die Thüren zugeschlagen. Ein letztes gellendes Pfeifen der Locomotive meldet, daß der Zug sich in Bewegung setzen wird ….
Plötzlich vernimmt man laute Ausrufe, in denen sich Wuth und Verzweiflung zu gleichen Theilen zu erkennen geben, und ich höre die deutsch hervorgestoßenen Worte:
»Anhalten! … Halt! Halt an!«
Einige Beamte wollen ihn zurückhalten. (S. 16.)
Ich sehe durch das niedergelassene Fenster.
Ein großer starker Herr mit kleinem Koffer in der Hand, einen helmförmigen Hut auf dem Kopf und die Beine in den Falten seines langen Ueberziehers verwickelt, rennt daher, daß ihm der Athem ausgeht. Er hat sich verspätet.
»Claudius Bombarnae, der sich freut auf die Fahrt in Gesellschaft des Herrn …« (S. 21.)
Einige Bahnbeamte wollen ihn zurückhalten … Versuche nur Einer gefälligst, eine Bombe mitten im Fluge aufzufangen. Auch im vorliegenden Falle unterliegt das Recht der Gewalt.
Die teutonische Bombe beschreibt einen sehr glücklich berechneten Bogen und platzt in das Nebencoupé, dessen Thür ein gefälliger Reisender offen hält, polternd und schnaufend hinein.
Im gleichen Augenblicke rückt der Zug an, die Räder der Locomotive gleiten auf den Schienen, dann steigert sich die Geschwindigkeit …
Wir sind abgefahren.
Zweites Capitel.
Drei Minuten zu spät abgefahren; zuerst heißt es pünktlich sein. Ein Berichterstatter, der nicht ganz pünktlich ist, gleicht dem Geometer, der es unterläßt, seine Rechnung bis zur zehnten Decimalstelle fortzuführen. Diese Verzögerung von drei Minuten hat es dem Deutschen ermöglicht, noch mit unserem Zuge fortzukommen. Ich denke, der Mann wird mir noch Futter für meine Feder bieten; doch das ist vor der Hand nur so eine schwache Vermuthung.
Unter dem hiesigen Breitengrade ist es im Monat Mai um sechs Uhr Nachmittags noch ganz hell. Ich habe mir einen Fahrplan angeschafft und studiere denselben. Die beigefügte Landkarte zeigt hier Station für Station, den Weg der Eisenbahn zwischen Tiflis und Baku. Nicht zu wissen, in welcher Richtung die Locomotive dahinbraust, ob der Zug nach Nordosten hinauf oder nach Südwesten hinabfliegt, das wäre mir rein unerträglich, destomehr, weil ich nach Einbruch der Nacht doch nichts mehr sehen werde, denn ich bin kein
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