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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition)
Autoren: Régis Jauffret
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konnte sie nicht mehr schreien, weinen, laut stöhnen. Im Fernsehen hatte Angelika einen Bericht über einen französischen König gesehen, der beschlossen hatte, sechs Jahre im Bett zu verbringen, um seine Müdigkeit zu überwinden. Danach war er topfit wieder aufgestanden und hatte sich bis zu seinem Tod fünfundzwanzig Jahre später einer ungewöhnlichen Gesundheit erfreut.
    Angelika war nicht so ganz von der Heilung ihrer Tochter durch einen Aufenthalt im Bett überzeugt, aber sie träumte davon. Außerdem wäre es ja keine Katastrophe, so lange in dieser Kiste liegen zu bleiben, wo man lediglich kurze Spaziergänge von Zimmer zu Zimmer und ein paar Sprünge machen konnte, um zu zeigen, dass man gewachsen war und der Kopf bald die Decke durchbohrte.
    Angelika wachte über Petra. Todesangst und Seelenruhe lagen in der Stille der Nacht. Petra hatte immer den Mund weit offen, um Luft zu bekommen. Ständig hörte man ein Geräusch wie ein Blasebalg, eine Art Mantra, bei dem man gar nicht mehr hinhorcht und das einen in den Schlaf wiegt. Der Fernseher war aus. Seit Jahren hatte Angelika ihn kaum ausgeschaltet, und wenn, dann nur, um zu schlafen. Aber oft lauschte sie dem Singsang auch, bis sie die Augen schloss, einschlief und die Berichte nach und nach durch die Stimmen der Boutiqueverkäuferinnen ersetzt wurden, die durch Angelikas Träume von sich selbst als begrabener Schönheit spukten.
    Martin und Roman hatten die Anweisung, leise zu sprechen.
    ,,Ich will euch nicht mal mehr flüstern hören!“
    Martin widersetzte sich dem Befehl. Oft hörte man ihn in der Speisekammer schreien. Das war Brauch im Keller. Sich hören, alles aus sich herauslassen – eine Art Ur-Therapie, nach der man erleichtert und ohne Stimme war. Als hätte man sich ein Furunkel ausgedrückt.
    Roman bewegte sich nicht mehr wie ein Hund, er war nun eine Katze. Eine Katze ohne Tatzen, man hörte ihn nie kratzen, und er zögerte, die Wasserspülung zu betätigen, wenn er auf dem Klo war. Er schlich ins Zimmer, rollte sich auf dem Boden zusammen. Er streckte die Zunge heraus, um den Tod zu schmecken, diese exotische Speise, die Petra nun bald kosten würde.
    Martin hatte Angst, er fürchtete, zusammen mit seiner Schwester zu verschwinden. Er hatte sie immer gekannt, sie führten ein eigenartiges Zwillingsdasein, als würden sie zu zweit ein Gehirn, ein Bewusstsein, gemeinsame, identische Erinnerungen teilen. Nur die Hormone hatten sie in späteren Jahren getrennt.
    Er ging ins Zimmer, nachdem seine Mutter oft nach ihm gerufen hatte. Er brachte Eiswürfel in einem Plastiksack, den er Petra auf die Stirn legte, wenn Aspirin das Fieber nicht mehr senken konnte. Er wandte den Blick vom Gesicht seiner Schwester ab, die wie eine Seerose aus den Tiefen des Kopfpolsters aufzutauchen schien.
    ,,Wir brauchen Medikamente.“
    Fritzl überlegte.
    ,,Medikamente?“
    Außer Kopfschmerztabletten und Hustensaft war vierundzwanzig Jahre lang kein anderes Medikament durch die Luke gekommen.
    ,,Und ihr seid daran nicht gestorben.“
    Tote behandelte man nicht, aber Lebende konnten sich einer Willensanstrengung unterziehen, um weiterzuleben. Diese Erkrankung war eine Prüfung, die Petra hinter sich bringen müsste, um erwachsen zu werden.
    ,,Wir müssen sie wecken.“
    Er schlug sie leicht auf die Wange. Petra stöhnte lauter. Sie hob die Hände, auch wenn sie sie nicht so weit ausstrecken konnte, um die Schläge zu parieren.
    ,,Sie schlägt die Augen auf.“
    Zwei blaue Kugeln erschienen zwischen den aufgerissenen Lidern.
    ,,Wie heißt du?“
    Sie erinnerte sich nicht mehr. Aber auf einmal konnte sie sich artikulieren.
    ,,Ich weiß es nicht.“
    ,,Erinnere dich!“
    Sie schloss wieder die Augen. Kein Seufzer mehr, regloser Körper, klaffender Kiefer, die Lungen mühten sich umsonst, sich zu füllen.
    ,,Vielleicht könntest du Antibiotika bringen.“
    ,,In unserer Familie sind wir immer ohne Antibiotika ausgekommen.“
    Und er ging.
    Angelika hatte sich in den Kopf gesetzt, dass Hausmittelchen Wunder wirken können. Sie schüttete Pfeffer in einen Topf mit Wasser, ließ den Sud tagelang kochen und schlief kaum, um ständig das verdampfte Wasser wieder aufzufüllen. Diese grauenhafte Tinktur flößte sie der Kranken ein. Petra hatte Schluckbeschwerden, sie hustete, aber die verordnete Medizin schaffte es schließlich in ihren Magen.
    Angelika stach sie mit einer Nadel. Petra verzog das Gesicht bei dieser barbarischen Akupunktur. Stundenlang legte Angelika ihr die
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