Claustria (German Edition)
zu entschädigen, die Fritzl ohne Sicherheiten Geld geliehen hatten, damit er seine baulichen Wahnideen realisieren konnte.
Das Bild des österreichischen Vaters war schon recht getrübt. Annelieses Exil läutete das Ende der polizeilichen Schikanen ihr gegenüber ein. So bewahrte man das Bild: Die österreichische Mutter, die, mit Füßen getreten, die Landesbevölkerung als ein Rudel Wölfe bezeichnet hatte.
Ein italienischer Journalist merkte an, dass Fritzl einen Bart wie der „Führer“ trug. Diese Nachricht verbreitete sich bis in die Blogs der Jugendlichen der Stadt. Väter rasierten sich die Bärte ab, damit man sie nicht für Kinderschänder hielt.
Der Bundespräsident musste auf unverschämte Fragen antworten.
„Bei uns lagert man im Keller Wein. Stecken Sie in Österreich Ihre Kinder in den Keller?“
Er sagte: „Nein.“ Die ganze Welt lachte.
Angelika beherrschte Österreich fast ein Jahr lang. Das Wort der Märtyrerin war so heilig wie eine Koransure. Von ihrem Befehlsstand im Klinikum aus dirigierte sie Satelliten und Druckmaschinen rund um die Welt.
Die Verhöre von Fritzl wurden veröffentlicht, wenn Angelika sie billigte. Oft veränderte sie seine Aussagen, um das Fundament ihrer Geschichte zu konsolidieren. Zu Anfang des Falles lehnte sie mehrere Polizeibeamte als befangen ab, unverzüglich wurden sie durch Marionetten ersetzt. Als sie verlangte, dass die Bluttransfusionen bei ihrer Tochter Petra sofort eingestellt werden, musste man einen Vergleich schließen.
„Blut von Fremden.“
„Wir haben kein anderes.“
„Geben Sie ihr meines.“
„Ihre beiden Blutgruppen sind unverträglich, zudem ist die Ihrer Tochter äußerst selten.“
„Ich möchte die Spender kennenlernen.“
Am nächsten Tag wurde im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ein Aufruf ausgestrahlt. Mit ausdrucksloser Stimme verlas ein Arzt im Kittel das Kommuniqué.
„Aufgrund eines Engpasses bei den Blutkonserven der Gruppe AB nach einer Unterbrechung der Kühlkette bitten wir dringend alle Personen, die Träger dieser Blutgruppe sind, sich unverzüglich unter der nun eingeblendeten Telefonnummer zu melden.“
Drei Tage später gab es einen Aufmarsch im Foyer des Klinikums. Angelika versteckte sich in einem verglasten Büro. Ihre Hand hob sich, sank nach vorne oder bewegte sich von links nach rechts, um einen möglichen Spender abzulehnen. Ein Polizist, als Pfleger getarnt, musste so tun, als messe er den Blutdruck der Durchgefallenen, und sie wegen Bluthochdrucks, bei dem ein Aderlass nicht angeraten ist, wieder nach Hause schicken.
Angelika schien die Leute aufs Geratewohl zu wählen. Sie nahm so viele Männer wie auch Frauen und selbst einen alten Mann, der sich hereingedrängt hatte, obwohl er schon lange die siebzig überschritten hatte – die Altersgrenze, nach der Blutspenden nach europäischem Recht verboten waren.
„Das geht nicht.“
„Ich habe ja wohl das Recht, das Blut für meine Tochter auszuwählen.“
Staunend verständigte man sich darauf.
Einen Monat später wurde Petra jeden Morgen aus dem Bett gehoben. Zwei Physiotherapeuten kümmerten sich um sie und mühten sich, ihre Muskeln wieder zu kräftigen. Sie hatte aschfahle Haut, lehmfarbene Augenringe, ihre kleinen Hände hingen verloren an ihren Armen, sie sahen aus wie Stäbchen, die am Ellbogen gebrochen waren. Ein Kinderkörper. Unter der Haut klebte eine bewegliche Masse an den Knochen. Eine gebrochene, zerbrechliche Puppe, ihr Wachs war kurz davor, zu schmelzen.
Sie bildete keine Sätze, spuckte wirre Worte mit einem Räuspern aus. Sie antwortete nicht, wenn man sie fragte, ob sie Schmerzen habe oder ob sie sich anstrengen und das Bein höher heben könne. Die Worte sprudelten unversehens aus ihr heraus, als hätten sie sich langsam in ihrer Kehle angehäuft.
Ein geheimnisvoller Wortschatz, Sprachkieselsteinchen, Fragmente, verdrehte, vertauschte Silben, kleine Würfel, die planlos geworfen wurden, als wäre die Luft in den Räumen grüner Spielfilz. Eine Krankenschwester hatte die Aufgabe, sie einzusammeln und jeden Abend einem Linguisten aus Salzburg zu schicken, der darin den Kern der Aussage suchte.
Roman verbrachte sein Leben als Erwachsener in Wien. Als das Haus in Amstetten gesprengt wurde, sprach er das melodiöse Wienerisch fließend. Sollte er noch ab und zu einen unvermuteten Schrei ausstoßen oder auf allen vieren gehen, so geschah dies einzig in seinen eigenen vier Wänden.
Mit zweiundfünfzig hatte er drei Versuche
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