Claustria (German Edition)
khakibraunes Zelt auf, das mit Wärmedecken verhangen war, ein lichtundurchlässiger Zufluchtsort am Rande des Sportplatzes – wo sie Mittagsschlaf hielten, wie die Lehrer den anderen Kindern erklärten.
Und dann wurden sie mitten in der Nacht in einem Krankenwagen zurückgebracht, verloren in einem Konvoi von Militärlastern voller Soldaten mit Sturmgewehren, deren Lauf man unter der Plane erahnen konnte. Zurück ins Klinikum zu ihrer Mutter und ihrer Schwester, die noch immer in der Reha waren.
Das Klinikum diente als Schleusenkammer. Scharen von Lehrern und Oberlehrern jeder Art lösten sich tagtäglich ab, um den Jungen die Grundlagen eines Wissens einzuflößen, das der ältere Bruder in jeder Unterrichtsstunde in großen Tropfen ausschwitzte, während Roman die Suppe so in etwa aufnahm. Nach und nach verlor er seine Unwissenheit und entwuchs der Dummheit, mit der seine Kellergeschwister bis zum Lebensende geschlagen wären. Doch seine Intelligenz blieb seicht, als wollte sie trotz allem unbedingt mit den anderen solidarisch sein.
Seit dem Tag nach der Befreiung aus dem Verlies hatte die Polizei tägliche Zusammenkünfte organisiert: Großmutter Anneliese, Angelika, die Kellerkinder und die drei Kinder von oben, die Fritzl ihrer Mutter entrissen hatte, um sie an der frischen Luft zu erziehen, versuchten, Familienbande zu knüpfen, während Petra auf der Intensivstation mit dem Tode rang.
Nach ein paar Tagen fand Angelika ihre Mutter lästig. Roman und Martin begannen, ihr eine gewisse Zuneigung entgegenzubringen, Anneliese besuchte Petra jeden Tag und sprach auf eine besitzergreifende Weise über sie, die Angelika misstrauisch machte.
Die Medien hatten Zweifel an Annelieses Unschuld ausgesprochen. Selbst nachdem die Polizei keine DNS von ihr im Keller hatte sichern können, konnte sich niemand vorstellen, dass sie die Umtriebe ihres Mannes nicht bemerkt hatte, der ständig Lebensmittel in den Keller brachte und den Müll nach oben trug.
Angelika, die ihrerseits berechtigten Verdacht hegte, zeigte eines Morgens im Mai mit dem Finger auf ihre Mutter und beschuldigte sie stumm. Die alte Frau verteidigte sich unbeholfen vor ihrer schweigenden Tochter.
„Dein Vater hat mich schon immer terrorisiert. Er hätte mich geschlagen, wenn ich ihm auch nur eine einzige Frage gestellt hätte.“
„Ich habe nie gesehen, dass er mit den Einkäufen durch den Garten gegangen wäre. Und selbst wenn? Die Augen können einen täuschen wie die Menschen auch.“
„Ich habe etwas gehört, ja. Aber du konntest doch unmöglich da unten sein. Hätte ich meinen Ohren trauen sollen? Soll man denn auf alles achten, was man hört?“
„Er hat zu mir gesagt, du wärst einer Sekte beigetreten. Ich war beruhigt. Als du jung warst, hat dein Vater große Angst gehabt, dass du Drogen nehmen könntest. Er hat dich eingesperrt, um dich zu beschützen. Ohne ihn wärst du vielleicht schon tot.“
Ohne ein Wort verkündete Angelika ihrer Mutter ihr Urteil. Anneliese begriff, dass sie ihr von nun an verbieten würde, die sechs Kinder zu sehen, die ihr Mann ihrer Tochter gemacht hatte. Mit einem Blick warf Angelika ihre Mutter aus dem Zimmer, ohne ihr Zeit zu lassen, die Kinder noch einmal in den Arm zu nehmen.
Schweißgebadet verließ Anneliese den Raum. Sie hatte Angst vor einer Verhaftung, Angst, im Gefängnis zu sterben. Angelikas Gesicht war wie in Stein gemeißelt. Es hatte sich über diesem unwiderruflichen Urteil verschlossen, auch wenn sie ihren zahnlosen Mund nicht aufgemacht hatte, um es zu sprechen.
Als Angelika den Landespolizeikommandanten von Niederösterreich anrief, verließ ihre Mutter gerade durch den Regen taumelnd das Klinikum.
In der darauffolgenden Woche verbrachte man Anneliese unter einer anderen Identität in ein abgelegenes Dorf in Tirol, dessen Name bis zu ihrem Tod siebzehn Jahre später geheim gehalten wurde. Der Namenswechsel wurde ihr mit fünfhundert Euro in Rechnung gestellt, trotz ihrer Einwände, ihren eigenen Namen behalten zu wollen, der immerhin gratis sei. Bevor man sie wegbrachte, hatte sie gerade noch Zeit, sich bei ein paar Journalisten zu beklagen, die vor ihrem Haus Posten bezogen hatten.
Traurig, wenn man zehn Kinder großgezogen und kein Geld hat.
Gemäß den Verfügungen ihrer Tochter wurde Anneliese das Fruchtgenussrecht an der Rente ihres Mannes entzogen. In Zukunft müsste sie sich mit der Mindestpension begnügen. Das Haus in Amstetten wurde gepfändet, um damit teilweise die Banken
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