Claustria (German Edition)
eines Zusammenlebens hinter sich. Die ersten zwei hielten nicht einmal einen Monat. Der dritte scheiterte wenige Tage vor dem ersten Jahrestag. Eine Buchhalterin, frisch geschieden von einem Kollegen und Mutter von zwei Kindern.
Sie zwang ihre Kinder, Roman Papa zu nennen, aber diese Anrede störte ihn. Immer wenn er dieses Wort hörte, hatte er den Eindruck, zu seinem Vater zu werden. Ein geliebter Vater, den man ihm am Kellerausgang geraubt hatte, ein längst toter Vater, den man heimlich eingeäschert hatte, damit niemand im Internet sehen konnte, wie der Rauch seiner Leiche in den Himmel über Österreich aufstieg, und damit niemand seine Asche stehlen und sie in Beutelchen verkaufen konnte wie Kokain.
Roman spielte gern mit den Kindern auf dem Teppich. Er übersetzte für die Mutter die Worte, die ihnen manchmal fehlten, um ihre innersten Gedanken auszudrücken. Sie waren zwei und vier Jahre alt und sprachen noch vieles mit den Augen aus, mit ihren geschlossenen, aber redseligen Lippen, die sich kräuselten, schürzten, zusammenzogen oder sich wellten wie eine Düne. Roman konnte die Zeichen lesen wie andere Menschen ein Elektroenzephalogramm. Ein stummer, zarter Diskurs, den jedes erlernte Wort nach und nach auslöschte, bis sie eines Tages, um sich auszudrücken, nur noch die Sprache hätten, die für sie sprechen würde. Dann ständen sie hinter den Sätzen, verzweifelt, weil sie lediglich ein unflexibles Vokabular zur Verfügung hätten, dessen Bedeutung erstarrt war wie eine Luftblase mitten in einem Eiswürfel. Ziffern, mit denen man keine Zahlen bis in die Unendlichkeit bilden konnte, Sprüche, starr wie Axiome, vorgefasste Ausdrucksweisen, die die Menschen über die Realität legen wie ein Gitternetz.
Selbst die Großen sprachen weiterhin ohne Worte. Roman beobachtete die geschwätzigen Menschenmassen, all diese Augen, die ein verkümmertes Innenleben ausplauderten – dabei waren die Leute doch überzeugt, sie würden schweigen, wenn sie nichts sagten. Im Keller hatten die Geschwister stundenlang keinen Laut von sich gegeben, die Schwingungen ihrer Gedanken, immer auf der Hut, hatten sich in der eingeengten Atmosphäre stetig vermischt wie Gerüche.
Romans kurzzeitige Lebenspartnerin war eine ganz normale Frau, jedoch klug genug, um sich darüber klar zu werden, dass er Wurzeln behalten hatte, die bis in den Keller reichten. Er hatte kleine Kinderfüße, die einen dicken, schlaffen Erwachsenenkörper trugen. Mit der Zeit bekam sie das Gefühl, dass sie ihn aus dem Blick verlor. Wenn sie lauter wurde, merkte sie sehr wohl, dass er sich dem Gespräch zu entziehen schien. Dann kam nur noch ein künstlicher Text aus ihm heraus, den er selber nicht verstand. Währenddessen ließen die Kinder ihn nicht aus den Augen. Sie schienen etwas, das er ausstrahlte, zu schätzen.
Sie schimpfte. Er versuchte, sich zu verteidigen.
„Ich verstehe nicht, was du mir vorwirfst.“
„Von dir gehen schlechte Schwingungen aus.“
Er schwieg, senkte den Kopf. Die Kinder blickten seinen Schädel an.
„Wollt ihr wohl aufhören, ihn so anzustarren? Meint ihr, Papas Haare würden euch eine Geschichte erzählen?“
Sie hatten nichts mehr miteinander. Sie schliefen nebeneinander im Bett. Sie waren sich fremd geworden. Um Liebe zu machen, muss man sich ein wenig ähnlich sein.
Eines Abends verließ sie die Wohnung. Sie machte die Tür auf und ging mit ihren beiden Kleinen die Treppe hinunter. Sie stand auf der Straße, im Freien. Er würde nie erfahren, ob sie sich mit der gleichen Trunkenheit aus dieser Beziehung geflüchtet hatte wie er sich Jahrzehnte zuvor aus dem Keller von Amstetten. Eine Trunkenheit, die schnell verflogen war. Er hatte noch immer Sehnsucht nach dem Untergeschoss, diesem Schneckenhaus, dieser Muschel, die sie ganz ausfüllten wie Eigelb und Eiweiß in der Schale.
An seiner Spielkonsole, einer elektronischen Freundin, deren Sprache er sprach, tröstete er sich über den Bruch hinweg. Dicht über dem Erdboden sah er durch die Fensterfront seines großen Wohnzimmers die Welt vorbeiziehen.
Als Roman volljährig wurde, beschloss Angelika, dass er sich seinen Lebensunterhalt selbst verdienen sollte. Sie bat das Justizministerium um Hilfe, das dann seinen ganzen Einfluss bei der Wiener Stadtverwaltung geltend machte, damit Roman eine Stelle als Hilfsgärtner im Park von Schloss Belvedere bekäme. Eine Phantomstelle. Damit er beschäftigt war, musste er im Frühjahr hässliche Blumen in Beete pflanzen,
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