Claustria (German Edition)
die der Öffentlichkeit nicht zugänglich waren. Den Sommer über musste er sie wässern und im Spätjahr dann wieder herausreißen. Im Winter grub er die Beete mit dem Spaten um. Für einen Hungerlohn, der nach zwei Jahren gekürzt wurde, nachdem man ihm eine Halbtagsstelle zugewiesen hatte.
„Sie können sich ausruhen, außerdem werden Sie hier nicht groß gebraucht.“
Der Direktor schlug ihm väterlich auf die Schulter, ohne seinen Kummer zu bemerken.
Roman war vierundzwanzig. Nach monatelangem Mietzinsrückstand warf man ihn aus seiner Einzimmerwohnung im Erdgeschoss einer dieser Wohnsilos am Stadtrand, die gleich nach dem Krieg unter der sowjetischen Besatzung hochgezogen worden waren. Er konnte immer nur im Erdgeschoss wohnen, schon im ersten Stock musste er sich die Augen zuhalten. Höhenangst, Angst, in den Abgrund zu fallen, zermalmt und mit dem Teelöffel vom Pflaster gekratzt zu werden.
Er zog in ein abgelegenes Wohnheim, wo ihn eine nymphomane Hilfskraft eher schlecht als recht entjungferte. Dieses Erlebnis rief ihm vage ein unangenehmes Gefühl in Erinnerung, das er noch wirr im Gedächtnis hatte. Eine dieser Erinnerungen, die im Halbdunkel des Kellers geboren worden waren und noch immer in den Untiefen seines Gedächtnisses spukten. Doch mit der Zeit empfand er schließlich Lust mit dieser Frau.
Im März besuchte ihn eine Journalistin des ORF im Schloss Belvedere. Eine große, brünette Frau, deren graues Kostüm ihm wie eine zu luxuriöse Verpackung vorkam, als dass er davon träumen könnte, eines Tages Zugang zu dem Körper zu bekommen, den es verhüllte. Sie fragte ihn erst, ob er auch wirklich derjenige sei, den sie suchte. Er nickte mehrmals.
„Wir machen eine Reportage über Sie.“
„Über mich?“
Er deutete auf sich, indem er sich mit dem Zeigefinger auf die Brust tippte.
„Ich habe Ihren Bruder und Ihre Schwester getroffen, aber sie stottern und stammeln so, dass man ihre Äußerungen mit Untertiteln versehen müsste. Außerdem haben sie viel zu helle Haut und so widerliche braune Flecken, dass man sie in der Sendung pixeln müsste, sonst würden wir die Werbeeinnahmen von McDonald’s und Coca Cola verlieren, beides große Inserenten.“
„Ach so.“
Er schämte sich für seine Geschwister und genauso für sich selbst, denn sie waren durch die Bande des Blutes verwandt. Er stellte sich ein langes, blutiges Seil vor, das alle drei erdrosselte.
„Das wäre zu kompliziert, verstehen Sie?“
„Ja.“
„Also sind Sie der rote Faden der Reportage.“
„Ich?“
„Wir werden Bilder des Hauses zeigen und alte Fotos durchlaufen lassen, die die Polizei damals im Keller gemacht hat.“
Drei Monate später wurde die Sendung ausgestrahlt. In der ersten Zeit erkannten die Leute Roman auf der Straße. Man schielte ihn an und wandte sich gleich wieder ab. Man mochte die Helden dieser Tragödie nicht, unter der Österreich so hatte leiden müssen.
Nachdem ein Winter vergangen war, war Roman wieder ein Niemand. Dann nahm ein Londoner Verlag Kontakt zu ihm auf. Ein Scheck mit fünf Nullen, damit er seine Version der Ereignisse erzählte. Mit dieser Summe könnte er diese moderne Wohnung in der Wiener Altstadt kaufen, in der er sein Leben beschließen würde.
Großbritannien war schon immer scharf auf diesen brutalen Fall von Missbrauch und gefangenen Kindern gewesen. Zehn Jahre zuvor waren dort Angelikas Memoiren erschienen.
„Aber wir sind überzeugt, dass sie nicht alles gesagt hat.“
Angelikas Version des Tathergangs wurde zur Wahrheit erhoben. Keiner wagte es, auf Ungereimtheiten und Widersprüche in diesem erschütternden Text hinzuweisen. Statt Unbeschwertheit und Glück hatten ihr die Dividenden ihres Kelleraufenthalts fünfundzwanzig Millionen Dollar eingebracht, die sie bis zu ihrem Tod von jeder materiellen Sorge befreiten. Millionen von Exemplaren wurden verkauft, es wurden fast so viele Übersetzungen angefertigt, wie es Sprachen auf der Welt gibt. Der Stoff wurde mehrfach verfilmt, einige Filme wurden mit einem Oscar prämiert.
Roman traf sich oft mit Angelika und seinen Kellergeschwistern, die Angst vor dem Tag hatten und im Licht abgedunkelter Glühbirnen im Zwischengeschoss ihres Hauses in Salzburg lebten. Roman war das einzige Kind aus dem Keller, das in die Schule gegangen war. Er hatte zwar keinen Abschluss gemacht, war aber unabhängig geworden. Angelika hütete sich, ihm auch nur die kleinste finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen. Sie fürchtete,
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