Clementine schreibt einen Brief
an. Und obwohl ich auf keinen Fall sagen wollte, was ich gerade machte, sagte ich es doch.
»Ich spiele Die Uhr besiegen «, sagte ich.
»Wie spielt man das?«, fragte Joe.
»Ich sehe auf die Uhr und dann schaue ich weg und zähle die Sekunden. Dann sehe ich wieder hin und prüfe nach, ob ich richtig geraten habe. Ich bin schon ziemlich gut. Wenn ich je bei einem Quiz mitmache, wo man raten muss, wie viele Sekunden vergangen sind, dann gewinne ich. Und ich werde mir keinen von den doofen Preisen aussuchen, das kann ich euch sagen.«
»Na gut«, sagte Frau Nagel. »Ich finde, das reicht.«
Aber es reichte nicht. Jetzt spielten alle Die Uhr besiegen . Sie schrien: »Nur zwei Sekunden daneben!« und »Achtzehn Sekunden, das hab ich genau geraten« und »Hast du nicht, ich hab gesehen, wie du auf deine Armbanduhr gekuckt hast«, bis Frau Nagel ein Stück Papier über die Uhr klebte.
Ihr Hinterkopf warf mir einen Blick zu, der sagte: »Das werde ich deinem Lehrer erzählen!«
Ich erwiderte diesen Blick nicht, aber wenn ich es getan hätte, dann hätte meiner gesagt: »Gerne, denn mein Lehrer hat Ahnung von Die Uhr besiegen . Er weiß, dass es mir hilft, mit dem einen Teil meines Bewusstseins auf ihn zu hören, wenn ich mit dem anderen zählen kann. Wir haben da eine Abmachung. Und außerdem, wenn mein Lehrer mir sagen wollte, dass ich nicht auf die Uhr schauen darf, dann würde er das nicht vor der ganzen Klasse tun. Er würde mit seinen Fingern ein P formen, für privat . Und dann würde ich zu seinem Pult gehen und da würde er mit mir reden. Und mein Lehrer fehlt mir gerade ganz schrecklich. Deshalb ist es gut, dass er nicht mehr lange weg sein wird.« Was aber zu viel gewesen wäre, um es in einen einzigen Blick zu quetschen.
Der Rest des Morgens wurde noch schlimmer. Als es zur Pause klingelte, hatte sie garantiert hundertmal »Clementine, pass auf!« gesagt. Und dabei hatte ich doch immer aufgepasst!
Na gut, meinetwegen, nicht auf Frau Nagel, denn die hatte von langweilig auf superlangweilig umgeschaltet. Stattdessen hatte ich auf die verblüffende Idee aufgepasst, die mir in den Kopf gekommen war, als ich am Vorabend durch den Müll- und Recycling-Raum gegangen war. Und die war das Gegenteil von langweilig, das könnt ihr mir glauben.
»Zwanzig Dollar im Anmarsch«, schrieb ich in mein Matheheft.
Nach hundert Stunden war die Schule zu Ende. Die Fahrt mit dem Bus dauerte noch mal dreihundert Stunden. Und alle wollten nur darüber reden, wie nett Frau Nagel doch war, was beweist, dass sie alle außer mir hypnotisiert hatte. Dann war ich endlich zu Hause.
Meine Mom wollte gerade mit Sojasprosse zur Märchenstunde in die Bibliothek gehen. Sie gab mir einen Becher Joghurt und einen Apfel. Der Apfel erinnerte mich an das wissenschaftliche Experiment vom Montag, und gleich fühlte ich mich gar nicht mehr so wohl in meiner Haut. Ich stopfte ihn in meine Tasche.
Meine Mom beugte sich vor, um sich meinen Nacken genauer anzusehen. »Um Himmels willen«, sagte sie. Dann sah sie sich meine Arme an. »Ich werde doch mal mit Margrets Mutter reden müssen.«
»Das sind nicht alles Kneifspuren«, sagte ich. »Manche sind auch Bohrspuren. Die im Nacken kommen von Lilly. Die rechts kommen von Norris-Boris-Morris und mein linker Arm …«
»Ein Kind ist kein Nadelkissen. Bringen sie euch das in der Schule nicht bei?«
»Ist schon gut. Ich sitze jetzt vor Joe und Maria. Joe ist zu klein, um über seinen Tisch zu langen, und Maria ist ein schwaches kleines Würstchen.« Aber dann fiel mir etwas ein. »Moment mal, wenn ich es mir genauer überlege, dann hat Maria ganz besonders harte Finger. Spitz sind sie auch. Und was ist, wenn Joe seinen Bleistift nimmt? Dann bohrt er ihn mir vielleicht in die Lunge oder so. Ich glaube, ich sollte erst mal nicht mehr zur Schule gehen … bis Montag zum Beispiel.«
»Sei nicht albern. Ich schreibe einfach einen kurzen Brief … Wie heißt noch gleich diese Vertretungslehrerin?«
»Nein, Mom, tu das nicht!«
»Warum nicht?«
»Das würde alles nur noch schlimmer machen.«
»Was schlimmer machen?«
Also musste ich ihr von dem ganzen Ärger erzählen, den ich mit Frau Nagel hatte. Und von Margrets Vorschlag, immer dasselbe zu tun wie Lilly, was nicht geklappt hatte. Und dass ich umgesetzt worden war.
Meine Mom setzte sich neben mich. »Na, das war eigentlich sowieso kein besonders guter Rat«, sagte sie. »Es ist nie gut, etwas zu tun, nur, weil jemand anderes das auch tut.
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