Cleo
jemandem zu zeigen, der nicht an Kinder gewöhnt war. Ich hatte Philip gewarnt, dass es ein schwieriges Alter war. Lydia hatte darauf bestanden, drei Perlenketten auf einmal zu tragen, und saugte jetzt ihr Glas mit einem Strohhalm fast auf einmal aus. Philip wirkte ein wenig genervt, als ihre Schlürfgeräusche von den mit Plastikholz verkleideten Wänden widerhallten.
»Lass das sein!«, fuhr ich das Kind an.
»Warum denn? Das macht Spaß!«
»Es ist nicht nett.«
»Aber das«, sagte sie, holte den Strohhalm aus dem Glas und ließ die letzten Tropfen auf ihren Schottenrock fallen.
»Nein, das auch nicht!«, sagte ich und tupfte ihren Rock mit einer Papierserviette ab. Ich sah zu Philip hinüber, der die Speisekarte studierte, als wäre sie ein komplizierter Kaufvertrag. Jetzt verstand er bestimmt, warum ich dieses Zusammentreffen verschiedener Wirklichkeiten bislang vermieden hatte.
»Hast du keine Mutter?«, fragte Lydia und trat gegen das Tischbein, so dass das Besteck anfing zu klappern.
»Doch, habe ich«, sagte er und ließ die Speisekarte sinken, um sich dem ersten ungezwungenen Kontakt mit den Kindern zu stellen.
»Warum gehst du dann nicht zu ihr nach Hause?«
Schweigen. Ich erwartete, dass Philip jeden Augenblick vom Tisch aufspringen und das Restaurant verlassen würde.
»Sie hat heute Abend schon was vor.«
»Das darf sie aber nicht, das musst du ihr sagen. Wir haben unsere Mutter. Du hast deine. Du kannst nicht auch noch unsere Mutter haben.«
»Strangers In The Night« krächzte aus dem Lautsprecher über uns. Für das untrainierte Ohr musste sich die Aufnahme anhören, als sei sie in einem Schiffscontainer gemacht worden und die Musiker hätten auf Blechdosen gespielt. Wenigstens füllte es die Stille aus.
Philips Blick fiel auf die Tischsets aus Papier, auf die Spiele gedruckt waren. Er fragte Rob, ob er Lust hätte, Schiffe versenken zu spielen. ( Nicht Schiffe versenken! , wollte ich Philip zurufen. Dafür ist Rob viel zu alt. Das ist in seinen Augen ein Spiel für Babys .) Aber woher sollte Philip sich auch mit den Entwicklungsstufen von Kindern auskennen? Ich hielt die Luft an und wartete auf einen Aufschrei der Empörung, der jeden Augenblick von Robs Tischseite ertönen musste.
»Ich würde lieber das hier spielen«, sagte Rob und deutete auf einen Haufen Punkte in einem Rechteck. Ich kannte das Spiel nicht, aber es sah aus, als könnte man sich darüber die Köpfe einschlagen. Jeder Spieler durfte, wenn er an der Reihe war, einen Strich zwischen zwei Punkten ziehen, um diese nach und nach zu Rechtecken zu verbinden. Derjenige mit den meisten Rechtecken hatte gewonnen. Das war die Restaurantversion von Krieg.
Das Spiel fing ganz gemächlich an, so dass ich Gelegenheit hatte, ein Stück meiner Pizza Hawaii zu essen und dabei auch Lydia ständig einen Bissen in den Mund zu stopfen, so dass keine Kröten mehr daraus hervorhüpfen konnten.
Um etwas zur Unterhaltung beizusteuern, las ich von der Speisekarte die Geschichte der Pizza vor, beginnend mitihren bescheidenen Anfängen, als die Griechen auf die Idee kamen, ihr Fladenbrot zu verzieren.
»Der eigentliche Wendepunkt kam im neunzehnten Jahrhundert, als ein neapolitanischer Bäcker namens Raffaele Esposito beschloss, ein Brot zu backen, das besser war als das von allen anderen. Zu Beginn fügte er nur ein bisschen Käse hinzu …«
Während des Lesens warf ich natürlich dauernd verstohlene Blicke auf die Schlacht, die zwischen den beiden wichtigsten Männern in meinem Leben stattfand. Rob hatte einen Haufen Rechtecke in der rechten Ecke erobert. Die von Philip füllten einen Streifen auf der anderen Seite. Das Spiel schien ausgeglichen zu sein.
»Irgendwann fing er an, Soße unter dem Käse zu verteilen. Er rollte den Teig rund aus …«
Robs Terrain breitete sich immer weiter aus. Philip schien nur mit halbem Herzen bei der Sache zu sein und kam nicht recht voran. Ein Lächeln wollte sich auf meine Lippen stehlen, aber ich unterdrückte es. Philip bewies eine unerwartete Reife und ließ Rob gewinnen. Vielleicht hatte er doch das Zeug zum Stiefvater. In seinen Cordhosen und dem Rollkragenpullover sah er jedenfalls schon wie einer aus.
»Espositos Pizza erfreute sich so großer Beliebtheit, dass man ihn aufforderte, eine Pizza eigens für den König und die Königin von Italien zu kreieren. Also erfand er eine Pizza in den Farben Italiens – rote Soße, weißer Käse, grünes Basilikum …«
Die beiden Rechteckhaufen
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