Cleverly, Barbara - Die List des Tigers
nicht hinters Licht führen lassen! Diese kleine Aufführung diente allein dem britischen Empire. Mein eigenes Land und meine Untertanen sind nicht so anspruchsvoll, und die Nachfolge wird ganz schlicht verkündet werden. Heute Abend wird mein Sohn Bahadur bei einem öffentlichen Essen von meinem Teller speisen und auf diese Weise von allen als mein Erbe anerkannt. Jetzt, da wir diese Sache erledigt haben, könnten wir uns doch alle auf die Terrasse begeben und zur Feier des Tages etwas trinken?«
Sie sahen höflich zur Seite, während Zalim seinem Bruder half, sich vom Gaddi zu erheben. Unter Schmerzen verließ Udai den Saal, wobei er sich schwer auf Zalims Schulter stützte. Joe folgte, unsicher und verstört. Etwas an der Gestaltung des Testaments, nur eine Kleinigkeit, war ihm merkwürdig erschienen. Das Datum, der 16. Juni, war in beiden Exemplaren mit einer anderen Tinte vermerkt worden als der eigentliche Text. Stephens Blauschwarz anstatt Stephens Schwarz.
Aus einem Impuls heraus trat Joe auf den alten Schreiber zu und half ihm, den Tisch zusammenzuklappen. Er musterte den Mann verstohlen. Offensichtlich konnte er Englisch schreiben, aber sprach er es auch? Wie würde er reagieren, wenn man ihm eine Frage stellte? Ach, was soll’s! Joe beschloss, das Wagnis einzugehen und sich auf die englische Gerissenheit und den indischen Eifer, gefällig zu sein, zu verlassen. »Ich frage mich, wie gut Ihr Gedächtnis ist, Sir?« Joe lächelte breit und freundlich. »Können Sie sich erinnern, an welchem Tag im April der Herrscher Sie gebeten hat, dieses Dokument anzufertigen?«
»Aber natürlich kann ich mich erinnern!«, erklärte der alte Mann stolz. »Es war der dritte April!«
Eiseskälte durchfuhr Joe. Sein Schuss ins Dunkle hatte eine harmlose Information ans Licht gebracht, die die absurde Theorie stützte, die er seit seinem Besuch in Surigargh entwickelt hatte. Seine erste Reaktion war, Edgar davon zu erzählen, aber er unterdrückte diesen Gedanken. Er konnte sich bei Edgar nie ganz sicher sein.
Edgar wartete im Flur auf ihn. »Was haben Sie jetzt wieder vor? Es ist keine gute Idee, mit den niedrigen Kasten zu fraternisieren, Sandilands. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit einfach auf die anstehende Aufgabe, verstanden? Denken Sie daran, dass Sie Sir George heute Abend am Telefon Bericht erstatten müssen. Bis dahin sollten Sie etwas zu erzählen haben. Er wird nicht beeindruckt sein, wenn Sie ihm berichten, dass Sie den Vormittag damit verbrachten, einen Rundflug über das Land zu machen und mit den Eingeborenen zu verkehren.«
»Sie haben vollkommen Recht, Edgar«, meinte Joe heiter. »Aber ich kann ihm ja die Neuigkeit von der Nachfolge mitteilen, und das ist doch schon was! Der schwarze Hengst ist als Erster eingelaufen, und zufällig hat Sir George sein Geld genau auf diesen Gaul verwettet. Das wird ihm gefallen ... immer vorausgesetzt, dass er nicht schon längst davon wusste. Er scheint allen anderen immer eine Nasenlänge voraus zu sein.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ihm die Einzelheiten zusagen werden«, murmelte Edgar. »>Wehe dem Land, das von einem Kind oder einem Weib regiert wird< heißt es bei den Rajputen. Und hier haben wir es offenbar mit einer doppelten Dosis Pech zu tun! Kommen Sie, man hat uns zu einem Drink auf die Terrasse eingeladen. Und wir sollten uns besser beeilen. Wenn ich es recht verstanden haben, stehen die Leute Schlange, um mit Ihnen zu reden. Und ich muss mit Colin eine Tigerjagd planen.«
Die Stimmung und die Zusammensetzung der Gruppe auf der Terrasse schienen subtil verändert. Zu dem Maharadscha und seinem Bruder hatte sich eine Auswahl Höflinge gesellt, und ein Mann in dunkelblauer Uniform und jeder Menge Goldschnüren hatte hinter Udais rechter Schulter Aufstellung genommen. Das Knallen der Champagnerkorken wurde von Glückwunschrufen begleitet. Es war offensichtlich, wie die Spannung nachließ, als alle die Gläser hoben, um dem neuen Erben ihren Respekt zu bezeugen - dem Yuvaraj Bahadur.
Alle tranken, bis auf den uniformierten Fremden, der still und reglos verharrte, mit Ausnahme seiner dunklen Augen, die unablässig über die Gruppe wan-derten. Joe fühlte sich nicht wohl mit der Länge der Zeit, in der sich ihre Blicke kreuzten. Er wurde an eines dieser kindlichen Anstarrspiele erinnert, bei denen derjenige verlor, der als Erster den Blick abwandte, und er war erleichtert, als ihn der Herrscher beim Namen rief und er dadurch gezwungen war, den Blickkontakt
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