Cleverly, Barbara - Die List des Tigers
warteten auf Joe, als dieser zum Neuen Palast zurückkehrte. Edgar war in keiner sehr herzlichen Stimmung.
»Wo zur Hölle haben Sie gesteckt, Sandilands? Mussten Sie sich ausgerechnet heute an einen Himmelsritt wagen? Wirkt ein wenig respektlos, finden Sie nicht auch? Und wieso haben Sie das Mädchen gestern Nacht abgewiesen? Verflixt, was sollte das denn? Sie ist doch keine Puppe aus einer Geschenkpackung von Hamleys!«
»Ich habe mich nur an die ungeschriebenen Regeln des Raj gehalten, Edgar«, erklärte Joe geduldig. »Der Sahib nimmt niemals eine Bestechung an.«
»Außer es gehört zu den drei F-Wörtern - etwas Florales, etwas Fruchtiges oder etwas zum Fi ...«
»Ja, danke für diese Gedächtnishilfe! Sie war jedoch unnötig.«
»Sie hätten jemand beleidigen können. Sie sind seit Ihrem Eintreffen bereits zweimal in den Fettnapf getreten, und dabei sind Sie erst wenige Stunden hier. Hören Sie mal gut zu! Der Herrscher möchte uns beide sehen. Und zwar sofort. Will uns wahrscheinlich unseren Marschbefehl erteilen, und wer könnte es ihm verübeln? Also kämmen Sie sich die Haare und folgen Sie mir.«
Sie gingen zum Thronsaal, einem lang gestreckten, prachtvollen Raum, in den eintausend Menschen passten. Als sie eintraten, waren jedoch nur fünf Personen anwesend. Der Herrscher saß in vollem Ornat auf seinem Gaddi aus rotem Samt, der sich auf einem silbernen Sockel befand. Sein Kopf wurde von einem goldenen Schirm geschützt, den ein Diener hielt. Ein faltiger, alter Mann saß unterhalb des Sockels, ein Tintenfass und einen Stift in der Hand. Zalim Singh stand zur Rechten seines Bruders. Claude hielt sich diskret im Hintergrund.
»Meine Herren, guten Morgen! Ich bin entzückt, dass Sie einige Augenblicke für mich erübrigen können. Ich möchte mich Ihnen keineswegs aufdrängen, aber ich muss Sie um Ihre Hilfe in einer Staatsangelegenheit bitten. Eine ganz einfache Sache. Ich möchte Sie bitten, Ihre Unterschrift auf diese Dokumente zu setzen.«
Udai hielt zwei Pergamenturkunden hoch, die mehrere Siegel und viele kalligraphische Ausschmückungen trugen. Auf Joe und Edgar wirkten sie ausnehmend wichtig.
»Mein Testament«, erklärte der Herrscher. »Oder besser gesagt, eine schriftliche Auflistung meiner Wünsche bezüglich meiner Nachfolge. Ich habe den Inhalt bereits mit dem Vertreter der britischen Regierung abgestimmt.« Er nickte kurz in Richtung von Claude, während dieser angelegentlich seine auf Hochglanz polierten Stiefel inspizierte. »Es müssen nur noch zwei brave, aufrichtige Männer mit ihrer Unterschrift bezeugen, dass dies mein freier letzter Wille ist.«
Er gab dem Schreiber ein Zeichen, der ihm die Pergamente aus der Hand nahm und sie auf einen seitlich abgestellten, tragbaren Tisch legte. Ein Füllfederhalter tauchte auf, und alle warteten auf die feierliche Unterzeichnung.
»Ich muss schon sagen, Sir«, protestierte Joe, den böse Vorahnungen überfielen. »Sollte das nicht lieber von Würdenträgern aus Ranipur unterzeichnet werden, anstatt von zwei durchreisenden Condottieri? Stehen denn keine vertrauenswürdigen Hofbeamten mit ansehnlichem Stammbaum zur Verfügung?« Er lächelte entschuldigend, um seinem taktlosen Zwischenruf die Schärfe zu nehmen.
»Vertrauenswürdige Hofbeamte?« Udais Lächeln kehrte zurück. »Ein Widerspruch in sich, Sandilands. Zeugen sind schon verschwunden, haben ihre Mei-nung geändert oder trieben sogar auf dem Grund des Sees. Wir haben zwei Ausfertigungen erstellt, und Sie werden eine davon mitnehmen. Sie können das Dokument gern lesen - ich finde sogar, Sie sollten es unbedingt lesen«, meinte Udai hilfreich, als sie zu dem Beistelltisch gingen.
Edgar griff sich den Füllfederhalter, sah kurz auf das Dokument und setzte ohne zu zögern seinen Namen an die Stelle, auf die der Schreiber zeigte. Joe brauchte einige Augenblicke, um den Inhalt des Testaments zu erfassen.
Es gab keine Überraschungen. Bahadur, der uneheliche Sohn von Udai Singh, sollte nach dem Tod seines Vaters Herrscher werden; zwei Regenten sollten die Regierungsgeschäfte führen, bis der Junge das achtzehnte Lebensjahr erreicht hatte.
Joe las interessiert deren Namen: Claude Vyvyan und Ihre Hoheit, Maharani Shubhada.
Joe unterschrieb. Der Schreiber rollte die Dokumente sorgsam ein und wickelte um jedes ein Band aus rotem Samt. Ein Dokument reichte er daraufhin dem Herrscher, das andere Joe.
»Was für ein Aufwand«, kommentierte Udai. »Aber ich weiß, Sie werden sich
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