Clockwork Princess: Chroniken der Schattenjäger (3) (German Edition)
»Ja«, sagte sie atemlos.
»Seit Will … hast du danach niemanden mehr geliebt?«
»Weißt du die Antwort darauf wirklich nicht?«
»Ich meine nicht so, wie du deine Kinder liebst oder deine Freunde. Tessa, du weißt, was ich dich gerade frage.«
»Nein, das weiß ich nicht«, erwiderte sie. »Ich glaube, ich muss es von dir hören.«
»Wir waren mal verlobt und wollten heiraten«, sagte Jem. »Ich habe dich all die Jahre geliebt – fast eineinhalb Jahrhunderte. Und ich weiß, dass du Will geliebt hast. Im Laufe der Jahre habe ich euch beide bei verschiedenen Gelegenheiten zusammen erleben können und mir ist bewusst, dass diese Liebe so groß war, dass sie jede andere Liebe – selbst die, die wir in unserer Jugend füreinander empfanden – klein und unbedeutend erscheinen lassen muss. Du hast mit Will ein ganzes Leben voller Liebe verbracht, Tessa. So viele Jahre. Kinder. Erinnerungen, die ich nicht …« Jem verstummte abrupt. »Nein«, murmelte er und gab Tessas Handgelenk frei. »Ich kann das nicht. Ich war ein Idiot zu glauben … Tessa, verzeih mir«, stieß er hervor, machte auf dem Absatz kehrt und tauchte zwischen den Passanten unter, die über die Brücke drängten.
Geschockt stand Tessa einen Moment reglos da; es war nur ein Moment, doch der reichte, dass Jem in der Menschenmenge verschwand. Tessa streckte einen Arm aus, um sich abzustützen. Die Brüstung fühlte sich kalt unter ihren Fingern an – kalt wie in jener Nacht, als sie zum ersten Mal zu dieser Brücke gekommen waren, zum ersten Mal richtig miteinander geredet hatten. Jem war der erste Mensch gewesen, dem sie ihre größte Furcht anvertraut hatte: die Sorge, dass ihre Fähigkeiten sie zu etwas machten, das anders war, das nicht menschlich war. Du bist ein Mensch, hatte er gesagt. In jeder Hinsicht, die von Bedeutung ist.
Sie erinnerte sich gut an ihn, an den liebenswerten, todkranken Jungen, der sich die Zeit genommen hatte, ein verängstigtes Mädchen zu trösten, das er kaum kannte, ohne auch nur ein Wort über seine eigenen Sorgen zu verlieren. Natürlich hatte er seine Spuren in ihrem Herzen hinterlassen. Wie konnte es auch anders sein?
Tessa erinnerte sich an den Moment, als er ihr mit zitternder Hand den Jadeanhänger seiner Mutter entgegengestreckt hatte. Sie erinnerte sich an Küsse in einer Kutsche. Und an einen von Mondlicht erfüllten Raum und den silberhaarigen jungen Mann, der am Fenster stand und der Geige in seinen Händen eine liebliche Musik entlockte, schön und sehnsüchtig.
Will?, hatte er gefragt. Will, bist du das?
Will. Einen Moment zögerte ihr Herz. Sie erinnerte sich wieder an die Zeit nach Wills Tod, an ihren Kummer, die langen, einsamen Nächte. Und daran, wie sie jahrelang morgens nach dem Aufwachen als Erstes nach ihm getastet hatte, in der Erwartung, ihn neben sich zu spüren. Nur langsam hatte sie sich an die Tatsache gewöhnt, dass sie seine Seite des Betts immer leer vorfinden würde. Wie oft hatte sie irgendetwas lustig gefunden und sich zu ihm gedreht, um den Scherz mit ihm zu teilen, nur um dann erneut bestürzt festzustellen, dass er nicht mehr da war. Die schlimmsten Momente waren morgens beim Frühstück gewesen, als sie allein am Tisch saß und erkennen musste, dass sie sich nicht mehr an den genauen Farbton seiner blauen Augen oder den Klang seines Lachens erinnern konnte – beides war, genau wie die Musik von Jems Geige, verblasst und in weite Ferne gerückt, dort, wo Erinnerungen keinen Klang mehr besaßen.
Jem war nun sterblich. Er würde altern, genau wie Will – und genau wie Will würde auch er eines Tages sterben. Und Tessa wusste nicht, ob sie das noch ein weiteres Mal ertragen konnte.
Und dennoch.
Die meisten Leute dürfen sich glücklich schätzen, wenn sie in ihrem Leben auch nur einer großen Liebe begegnen. Und Sie haben gleich zwei gefunden.
Plötzlich setzten sich Tessas Beine in Bewegung, fast ohne ihr Dazutun. Sie stürmte durch die Menge, schob sich an Touristen vorbei und keuchte eine Entschuldigung, wenn sie über die Füße eines Passanten stolperte oder jemanden mit dem Ellbogen anstieß. Aber im Grunde war es ihr egal. Sie rannte förmlich über die Brücke und kam erst am anderen Ende abrupt zum Stehen, als sie eine schmale Steintreppe erreichte, die hinunter zur Themse führte.
Tessa nahm zwei Stufen auf einmal und wäre auf den feuchten Steinplatten beinahe ausgerutscht. Am Fuß der Treppe befand sich eine kleine Plattform mit einem Metallgeländer. Der
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