Clockwork Princess: Chroniken der Schattenjäger (3) (German Edition)
Unterton in der Stimme: »Ich selbst habe mich verändert.«
»Wie …?«
»Ich werde dir die ganze Geschichte erzählen, eine weitere Geschichte der Lightwoods und Herondales und Fairchilds. Aber das dauert länger als eine Stunde und dir ist doch bestimmt kalt.« Er trat einen Schritt vor, als wollte er Tessa an der Schulter berühren, schien sich dann aber eines Besseren zu besinnen und ließ die Hand wieder sinken.
»Ich …« Tessa fehlten die Worte. Sie stand noch immer wie unter Schock. Natürlich hatte sie ihn jedes Jahr hier an diesem Ort, auf dieser Brücke zu Gesicht bekommen, doch erst jetzt wurde ihr klar, dass sie während der vergangenen Jahre immer einen völlig verwandelten Jem erlebt hatte. Aber diese Begegnung hier … das war so, als würde sie in ihre eigene Vergangenheit zurückversetzt, als wäre das vergangene Jahrhundert einfach ausradiert worden. Sie fühlte sich gleichzeitig schwindlig und freudig erregt und total erschrocken. »Aber … was passiert nach heute? Wohin gehst du? Ziehst du nach Idris?«
Einen Moment lang wirkte Jem richtig verwirrt – und trotz der Jahre furchtbar jung . »Keine Ahnung«, sagte er. »Bisher hatte ich nie die Gelegenheit, für ein ganzes Leben zu planen.«
»Dann…ziehst du in ein anderes Institut?« Geh nicht, hätte Tessa am liebsten gesagt. Bleib hier. Bitte.
»Ich denke nicht, dass ich nach Idris oder in irgendein anderes Institut gehen werde«, erwiderte er nach einer derart langen Pause, dass Tessa das Gefühl hatte, ihr würden gleich die Knie versagen, wenn er nicht endlich etwas sagte. »Ich weiß nicht, wie ich ohne Will als Schattenjäger leben soll. Und ich möchte das auch gar nicht. Ich bin noch immer ein Parabatai, aber meine andere Hälfte existiert nicht mehr. Wenn ich in ein anderes Institut gehen und um Aufnahme bitten würde, könnte ich diese Tatsache nie vergessen. Ich würde mich nie mehr als ein Ganzes fühlen.«
»Und was nun …?«
»Das hängt von dir ab.«
»Von mir?« Angst erfasste Tessa. Sie wusste, was sie von ihm hören wollte, aber das schien unmöglich. In all den Jahren seit seiner Wandlung zum Stillen Bruder war er ihr bei ihren jährlichen Treffen immer irgendwie distanziert vorgekommen. Nicht unfreundlich oder gefühllos, aber so, als befände sich eine dicke Glasscheibe zwischen ihm und dem Rest der Welt. Tessa erinnerte sich an den jungen Mann ihrer Jugend, der seine Liebe so freigiebig verschenkt hatte, wie andere atmeten, aber das war nicht derselbe Mann, den sie mehr als hundert Jahre lang einmal jährlich getroffen hatte. Sie wusste nur zu gut, wie sehr die Zeit sie selbst verändert hatte. Wie sehr mussten die vielen Jahre erst ihn verändert haben? Tessa konnte nicht sagen, was er sich von seinem neuen Leben – oder genauer von ihr – erhoffte. Sie hätte ihm gern all das gesagt, was er hören wollte, hätte am liebsten die Arme ausgestreckt und ihn an sich gezogen, seine Hände genommen und sich wieder mit ihnen vertraut gemacht – aber sie wagte es einfach nicht. Nicht, solange sie nicht wusste, was er von ihr wollte. Inzwischen waren so viele Jahre vergangen. Wie konnte sie da glauben, dass er für sie noch immer das empfand, was er früher für sie empfunden hatte?
»Ich …« Jem blickte auf seine schlanken Hände, die die Betonbrüstung der Brücke umklammerten. »Während der vergangenen hundertdreißig Jahre war jede Stunde meines Lebens genau verplant. Ich habe oft darüber nachgedacht, was ich tun würde, wenn ich jemals freikäme, falls ein Heilmittel gefunden würde. Ich dachte, ich würde sofort in die Freiheit entfliehen, wie ein Vogel aus einem Käfig. Aber ich hatte mir nicht vorgestellt, dass ich aus der Stadt der Stille auftauchen und die Welt so verändert vorfinden würde, so verzweifelt und extrem. So beherrscht von Feuer und Blut. Ich wollte unbedingt überleben, aber nur aus einem einzigen Grund. Ich wünschte …«
»Was hast du dir gewünscht?«
Doch Jem beantwortete Tessas Frage nicht. Stattdessen streckte er eine Hand aus und berührte behutsam das Perlarmband an ihrem Handgelenk. »Das ist das Armband, das Will dir zu eurem dreißigsten Hochzeitstag geschenkt hat«, sagte er. »Du trägst es noch immer.«
Tessa musste schlucken. Ihre Haut prickelte, ihr Puls raste. Und ihr wurde bewusst, dass sie dieses Gefühl, diese besondere Mischung aus Aufregung und Nervosität seit so vielen Jahren nicht mehr gespürt hatte, dass sie die Erinnerung daran beinahe vergessen hatte.
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