Club der gebrochenen Herzen
abgesehen von einem Drink.
Er erzählte Buffy, der Roman mache Fortschritte. Auch Andy, der Postler, war dem Figurenarsenal hinzugefügt worden. Den Anstoß hierzu hatte der Anblick von Andys Briefträgerkarre vor dem Wohnmobil-Center gegeben, den Harold bei seinem Mittagsspaziergang entdeckt hatte. Das wiederum hatte einen neuen Handlungsstrang zur Folge, in dem der örtliche Postbote Alec (neuer Name) sich in die Gattin des Geschäftsführers verguckt, während er ein Paket ausliefert; und mit einem gestohlenen Wohnmobil fahren sie zusammen weg, um ein neues Leben im schottischen Hochland zu beginnen. Ein vielsagendes Detail, die Sorte Detail, die nur ein Schriftsteller heraufbeschwören konnte, sollte dabei der Anblick der verlassenen Briefträgerkarre in den Monaten darauf sein … im Winter zugedeckt von Schnee und – glänzender Einfall! – bei Frühlingsbeginn von einem Rotkehlchen zum Nisten auserkoren. Worauf Harold sich fragte, ob er das Rotkehlchen-Motiv entwickeln sollte: die das Nest verlassenden Jungen als Symbol der Hoffnung und Erneuerung? Vielleicht flitzen sie als gefiederte Wegbegleiter durch die Szenen der Handlung? Eine Zeitlang spielte er mit der Idee einer metatextuellen Dekonstruktion – eines unzuverlässigen vogelartigen Erzählers. Das allerdings roch zu sehr nach Derrida, dem französischen Semiologen, mit dem Harold Generationen von Studenten am Holloway College verwirrt hatte. Im warmblütigen Körper des Schriftstellers verbarg sich, wie er feststellte, noch immer das dürre Gebein des Akademikers.
Buffy selbst war eine unschätzbare Materialquelle. Schriftsteller waren natürlich allesamt Diebe und Lügner – Thema einer Lehreinheit von Harold: Sie lügen, um die Wahrheit zu sagen –, aber Buffy war ein Freund, und um seine Vergangenheit zu plündern, musste er seine Erlaubnis einholen. Der Besuch bei dem neugeborenen Enkelkind zum Beispiel steckte voller Möglichkeiten. Die Geschichte barg ein reiches Gewebe von Beziehungen. Beziehungen zwischen Menschen, aber auch zwischen Themen und Bildern (eine weitere Lehreinheit). Nur verbinden , hatte E. M. Forster gesagt, ihm selbst war die Zwangsjacke der akademischen Welt nicht fremd gewesen.
Vielleicht konnte Harold das Bild der Hände als Symbol der Vergänglichkeit gebrauchen. Buffy hatte seine Exfrau Jacquetta am Babybett ihres Enkelkindes angetroffen. »Ich habe auf ihre Alte-Damen-Hände geschaut – Leberflecke, knotige Venen«, erzählte Buffy. »Und unmittelbar daneben dieses kleine Wunder, kleine Finger, winzig kleine Nägel. Dann habe ich auf meine alten Pranken geschaut, violett wie die eines alten Obersts, und Tränen sind mir in die Augen geschossen. Unsere Hände, die sich einst mit Liebe gestreichelt haben …« Buffy hatte abgebrochen, die Augen feucht. Zugegeben, es war Sperrstunde und er hatte das eine oder andere Bier getrunken, aber das Gefühl hatte Harold berührt, und er war schnell in sein Zimmer über dem Laden gegangen und hatte in den alten Laptop gehämmert.
All die Bilder wirbelten herum, das Problem war, er hatte noch keine Haupthandlung. Nicht im eigentlichen Sinn. Er ließ sie einfach laufen, so wie er es die Studenten in seinem Kurs über kreatives Schreiben gelehrt hatte, und das Resultat war entsprechend heillos. Er würde sich mit befriedigend bewerten. Sein Schreiben glich einem Hund im Park, der einem Geruch nachspringt, einen anderen erschnüffelt und dem nun hinterherjagt, einen neuen erschnüffelt und in die andere Richtung durchs Unterholz davonschießt. Professor Harold stand da, die Leine in der Hand, und rief vergeblich den Hund bei Fuß.
Es gab einfach zu viele Personen, und alle beanspruchten Raum. Manchmal saß er mit seinem Notizbuch im Coffee Cup und beobachtete Passanten und dachte sich ihre Geschichten aus. Nachdem er sie auf eine oft unglaubwürdige Reise geschickt hatte, schreckte es ihn auf, sobald er die lebende Person vorbeiradeln sah, ahnungslos, dass sie in Bigamie lebte oder der wiedergefundene Zwilling war. Da war zum Beispiel Andy, der Postbote. Sollte er nicht im schottischen Hochland sein? Diese Verlagerung stieß Harold sauer auf.
Aber er brauchte ein größeres Thema. Was war es? Jeder stöhnte doch heute, der britische Roman sei provinziell; er selbst hatte darüber gestöhnt. Man brauchte unbedingt einen zeitgenössischen Zustandsbericht der Nation, so wie ihn die amerikanischen Schriftsteller-Granden schrieben. Wäre er der Mann für diese Aufgabe? Er
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