Club der gebrochenen Herzen
hatte gedacht, das walisische Element werde ihn beflügeln, Knockton allerdings wirkte sehr wenig walisisch. Die meisten seiner Einwohner schienen von woanders hierher gekommen zu sein; was wohl heutzutage überall der Fall war. Vielleicht konnte er das ja zu einem seiner übergreifenden Themen machen, zusammen mit dem Versagen des Gemeinwesens, der Gier der Banker, der globalen Rezession, der Revolten – vielleicht sogar mit einem al-Qaida-Ausbildungslager in der Nähe der ehemaligen Grenzanlage Offa's Dyke?
Harold drehte sich der Kopf. Glücklicherweise war es schon sechs; Zeit, den Computer auszuschalten und Myrtle House anzusteuern. Es war Sonntag, und die Kochkünstler würden eintreffen. Er freute sich auf den Abend; nicht bloß darauf, opulent zu speisen, sondern auf die Möglichkeit, an neues Material zu kommen. Wochenkurse mit Unterbringung waren, wie er entdeckt hatte, ein Nährboden für Gefühlsenthüllungen. Mit etwas Glück entstünde ein weiterer Beziehungsclinch, der so was wie einen Plot anstoßen würde.
Wie er durch das abgedunkelte Geschäft ging, vorbei an den schemenhaften Schubfächern mit Krawatten und Socken, erinnerte er sich an Doris, seine erste Frau. Sie war flatterhaft gewesen, eine Jüdin aus der Arbeiterklasse, ordinär bis zum Gehtnichtmehr. Und was ihr theatralisches Getue betraf, eine Klasse für sich. Mein Gott, die Streitereien! Das Tellerwerfen war dramatisch gewesen, auf dem Niveau eines griechischen Restaurants. Jetzt allerdings dachte er daran mit der Abgeklärtheit eines Historikers, der über den Zweiten Weltkrieg reflektiert. Vielleicht ließ sich ihre Ehe irgendwo einbauen? So viele Jahre waren vergangen, er konnte sie bestimmt literarisch umformen. Heute war Doris eine matronenhafte Hausfrau, die mit einem British-Airways-Piloten in Twickenham zusammenlebte. Und der Spross ihrer stürmischen Beziehung bewohnte gerade mit Mann und Kind sein eigenes Heim in Hackney. Obwohl der Lauf der Zeit längst die Wunden geheilt hatte, wusste er doch, dass er daraus nicht schlau werden konnte, so wenig wie aus seiner Ehe mit Pia. Das eigene Leben mit all seiner verräterischen Widersprüchlichkeit glitt ihm durch die Finger wie Quecksilber; es gab keine Möglichkeit, es einzufangen und erzählerisch zu verarbeiten.
HIER RUHT IN GOTT / EIN NIE GEBORNER PLOT – die Inschrift auf dem Grabstein eines Schriftstellers. Er dachte, bitte, lieber Gott, lass mich nicht sterben, bevor ich einen Plot finde.
Monica
Das konnte doch nicht wahr sein! Monica stand da, das Glas in der Hand, und nahm die anderen Teilnehmer ins Visier. Ein Kochkurs für Leute, deren ehemalige Partner gekocht hatten;ein Kochkurs für völlig Inkompetente – und alles nur Frauen . Einen verrückten Augenblick lang glaubte sie, sie wäre am falschen Ort. Die kostbare Urlaubswoche; einige hundert Pfund; eine vierstündige Fahrt … alles, um eine Woche mit neun weiblichen Wesen zu verbringen. Was für eine unendlich deprimierende Perspektive.
Ihr Gastgeber war zugegebenermaßen ein Mann: Russell ›Buffy‹ Buffery, Schauspieler. Sie erkannte ihn aus dem Fernsehen wieder. Sie erinnerte sich auch an seine Rolle als Falstaff, als sie vor Jahren in Birmingham gewesen war, um eine Konferenz zu organisieren. Er sah tatsächlich noch immer so aus – stattlich, rotgesichtig, ein Mann, der die Nacht mit einer Buddel trockenen Weißwein durchzechen konnte. Sie vermochte einen anderen Trinker aus zehn Meter Entfernung auszumachen. Natürlich hatte er die besten Jahre schon hinter sich. Nicht anders als sie.
Ihre Botox-Stirn täuschte keinen, am wenigsten sie selbst. Monica hatte auch den furchtbaren Verdacht, dass ihr Schamhaar dünner wurde – nicht, als ob jemand das entdecken könnte. Die fehlenden Haare waren anscheinend zu ihrem Kinn gewandert. Sie hatte das erst kürzlich festgestellt, nachdem sie einen Vergrößerungsspiegel gekauft hatte. Nun musste sie die Lesebrille aufsetzen, um sie mit einer Pinzette auszuzupfen. Und dann noch diese peinlichen Flatulenzen. Hörten die Demütigungen des Alterns denn nie auf?
Ein anderer Mann hatte sich inzwischen zu ihnen gesellt – offenbar ein Schriftsteller, er hieß Harold. Knitterig aussehend, nicht unattraktiv, aber seine Blicke waren an ihr vorbeigewandert, im Raum herum. Es gab jüngere Frauen an der Bar, das war also der Grund – jüngere Frauen, die an ihren Drinks nippten; Monica war praktisch unsichtbar. Gewöhn dich dran . Aber es war hart, so hart. Sie
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