Coaching to go
wird.
»Ja, Sie haben recht, es ist immer dasselbe«, sagte sie, jetzt ziemlich kraftlos und traurig.
Ich ließ diese Stimmung einen Moment im Raum – Kerstin war jetzt in Kontakt mit sich, spürte ihre Trauer und Verzweiflung.
Es macht einen Unterschied, ob man seine Klagen als Klagen wahrnimmt! Solange man sich einredet, man würde sich nicht beklagen, bagatellisiert man die Bedürfnisse, die dahinterliegen.
»Dürften Sie sich denn beklagen?«, fragte ich sanft.
»Nee, das geht gar nicht«, sagte Kerstin und erzählte dann von ihrer Mutter, die immer alles hingenommen hat, »ohne zu klagen« – aber permanent am Jammern war. Ihre Großmutter fiel ihr ein: »Beklag’ dich nicht, Kind, so ist es eben«, hörte sie von ihr oft, wenn die kleine Kerstin ihrem Unmut Worte zu verleihen suchte.
Kinder haben oft noch nicht den Wortschatz, um ihre Gefühle angemessen zu artikulieren, das sieht dann für Erwachsene schnell so aus, als wolle sich das Kind beschweren. Ob die Gründe dafür vielleicht sogar gerechtfertigt sind, spielt dann keine Rolle. So lernte Kerstin, dass es nicht in Ordnung ist, sich zu beklagen, und dass man mit seinen unguten Gefühlen besser nicht in Kontakt kommt – und auch andere nicht damit belastet. Sie lernte eine Strategie, mit der sie sich trotzdem Luft machen konnte: Wenn ich sage, dass ich mich nicht beklage, beklage ich mich nicht, und dann kann ich ja loslegen … sozusagen inoffiziell. Diese Strategie hatte die Großmutter ihrer Tochter »beigebracht«, und diese wiederum ihrer Tochter: Kerstin. Und obgleich Kerstin mittlerweile 38 war, setzte sie diese kindliche Strategie immer ein, wenn es ihr nicht gut ging – unbewusst, natürlich.
Wenn Sie sich häufiger dabei ertappen, dass Sie sich auf die immer gleiche Weise beklagen, fragen Sie sich: Darf ich mich beklagen? Ist es für mich in Ordnung, wenn ich Klagen habe?
Jetzt aber war ihr das bewusst geworden und die Kerstin, die zu Beginn mit gefühlten 180 Stundenkilometern kommuniziert hatte, hatte sich in eine ziemlich nachdenkliche Frau verwandelt, die kein Wort mehr sagte. Sozusagen das krasse Gegenteil vom Anfang. Wir hatten nur noch knapp zehn Minuten Zeit, ein ziemlich großes Thema auf dem Tisch – ihre Familiengeschichte mütterlicherseits – und immer noch kein Ziel vereinbart. Dazu würde es wohl nicht mehr kommen, und vielleicht hatte Kerstin ja schon ein wichtiges Ziel erreicht, indem sie vor sich selbst zugab, dass sie klagte und Grund zur Klage hatte.
»Mal angenommen, sie würden sich jetzt, nur für diesem Moment, erlauben, sich zu beklagen – ginge das?«, fragte ich in die Stille.
»Ich könnte es versuchen«, sagte Kerstin leise, »ich möchte das gern, mir das erlauben, aber ich glaube, ich kann’s nicht.«
»Nicht oder noch nicht?«, fragte ich.
Kerstin sah mich jetzt wieder an: »Noch nicht«, sagte sie und lächelte.
»Gut, dass Sie das spüren können«, sagte ich, und dabei beließen wir es und beendeten die Sitzung in der 23. Minute.
Ich hätte noch viel fragen und sagen können, zum Beispiel was denn dann anders wäre, wenn sie sich ihre Klagen erlauben würde, und welche der Gründe sie dann tatsächlich beklagens- und verändernswert fände. Aber das Entscheidende war, dass Kerstin bewusst geworden war, dass ihr Lamentieren ein »altes« Verhalten war, welches ihre eigentlichen Gefühle überdeckte. Und, vielleicht noch entscheidender: Sie hatte einen Moment lang die darunterliegenden, eigentlichen Gefühle gespürt. Sie war auf einem guten Weg, auch ohne Ziel.
Manchmal reichen 30 Minuten eben nicht oder nur, um etwas nach oben ins Bewusstsein zu holen, was lange tief unten im Unbewussten war. Natürlich ist dabei Vorsicht geboten, denn sehr belastende Themen können dabei zum Vorschein kommen, und dann sollte der Coach sich versichern, dass der Klient auch wirklich in der Lage ist, damit umzugehen. Dies tat ich natürlich in den verbleibenden sieben Minuten, und befand, dass sie es war (sie selbst auch).
Kerstin kam danach noch für drei weitere, längere Sitzungen zu mir und nahm sich bei mir Zeit und Raum für all die Themen, die sie belasteten. Nach und nach gelang es ihr immer besser, eine Sprache dafür zu finden und mit ihrem Mann so darüber zu sprechen, dass sie sowohl mit sich als auch mit ihm in Kontakt blieb.
Sie zog dann um in eine andere Stadt, und nach ein paar Wochen bekam ich eine Mail, in der stand: »Liebe Frau Szekely, ich beklage mich jetzt hochoffiziell darüber,
Weitere Kostenlose Bücher