Coco Chanel & Igor Strawinsky
erwidert sie in einem nüchternen Ton, der die Antwort umso grausamer klingen lässt: »Vielleicht hast du recht. Vielleicht bist du für mich tatsächlich keine Herausforderung mehr.«
Es kommt ihm so vor, als hätte ein Gegner beim Tauziehen plötzlich einfach losgelassen und er fiele mit voller Wucht rücklings auf den Boden. »Du kannst nicht einfach so mit dem Leben anderer Menschen spielen. Du hast eine Familie auseinandergerissen …«
»Ach, und du hattest damit wohl überhaupt nichts zu tun, was?«
»Ich flehe dich an«, sagt Igor mit neuer Inständigkeit, wobei er jedes einzelne Wort mit geradezu zwanghafter Deutlichkeit betont, »denk noch einmal darüber nach.« Seine Haut spannt sich, sein ganzer Körper wappnet sich. In seinen Augen liegt ein verzweifeltes Flehen. »Diaghilew hat mir geschrieben, dass das Ballett nach Spanien auf Tournee geht. Warum fahren wir nicht einfach mit?«
»Dimitri will nach Monte Carlo.«
»Mit dir?«
»Ja.«
»Begleitest du ihn?«
»Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Willst du nicht bei mir sein?«
Beinahe unmerklich schüttelt sie den Kopf. Er kann nicht glauben, dass es auf diese Weise endet, so beiläufig. Verzweifelt
versucht er den einen Faden zu finden, an dem er ziehen muss, um alles wieder in Ordnung zu bringen. »Was willst du? Eine Heirat, Kinder?«
Sie erinnert sich daran, wie entsetzt er auf die Nachricht reagiert hat, dass sie schwanger sein könnte. »Du bist nicht gerade der Vater, den ich mir für meine Kinder aussuchen würde«, antwortet sie verächtlicher, als sie beabsichtigt hat.
Es scheint, als schnellte in seinem Inneren eine Feder zurück. »Weißt du, was dein Problem ist?«
»Was denn? Sag es nur!«
»Du bist bloß eine Oberfläche, darunter ist nichts mehr.«
Verletzt sieht Coco ihn an. Dann entspannen sich ihre Züge zu einem Lächeln.
»Bloß eine Oberfläche«, wiederholt er, diesmal ruhiger, aber mit gehässigerem Nachdruck.
Ihr Lächeln verwandelt sich allmählich in ein verschmitztes Grinsen. »Was sollte denn da sonst noch sein?«, fragt sie spitzbübisch.
In dem Moment kommt Dimitri aus dem Haus. »Coco, kommst du?«, ruft er.
Er ist bereit für ihren Spaziergang und hat das Gewehr dabei, das er immer mitnimmt, wenn er in den Wald geht. Die Waffe lehnt schräg über seinem Ellbogen. Dimitris Anwesenheit vermittelt den Eindruck von Macht. Ein Stück von den beiden entfernt bleibt er stehen und lädt beiläufig das Gewehr.
Igor ignoriert ihn. »Sag du es mir«, drängt er. Aber es ist zu spät. Er starrt Coco an. Eine unvorteilhafte Wildheit funkelt in seinen Augen.
Plötzlich ertönt von den Bäumen her Lärm, und sie drehen sich neugierig um. Gleichzeitig richtet Dimitri reflexartig sein Gewehr aus und zielt. Sein Körper bewegt sich, als sei
er eins mit der Waffe. Er hält sie in die Höhe und feuert in die obersten Äste. Zwei Schüsse lösen sich schnell hintereinander. Jedes Mal wird sein Arm zurückgeschleudert. Blaue Rauchwölkchen entweichen aus dem Lauf, und eine Ringeltaube mit einem weißen Band um den Hals stürzt wie ein Stein auf den Rasen. Gleichzeitig steigt ein Vogelschwarm wie eine dunkle Wolke in die Luft und fliegt in einer steilen Kurve über die Baumwipfel davon. Dimitri stößt einen triumphierenden Pfiff aus. Die heißen Patronenhülsen liegen auf dem Boden. Das Echo der beiden Schüsse dröhnt immer noch durch den Garten.
Igor starrt ihn ungläubig an. Der Lärm hallt in seinen Ohren nach. Als ihm der beißende Geruch des Schießpulvers in die Nase steigt, bricht sein Zorn plötzlich und unaufhaltsam aus ihm heraus. Sein Gesicht verzerrt sich in unbändiger Wut.
»Müssen Sie denn alles zerstören, womit Sie in Berührung kommen?« Er geht auf Dimitri zu, beginnt zu laufen, stürzt sich mit rudernden Armen auf ihn und hämmert blindlings mit den Fäusten gegen seine Brust.
»Was tun Sie denn da?«
Dimitri taumelt zurück. Das Gewehr wird ihm aus der Hand geschlagen. Vor lauter Überraschung lässt er wehrlos einen Hagel wirkungsloser Schläge über sich ergehen. Dann dreht er sich um und versetzt Igor instinktiv einen einzigen kraftvollen Schlag direkt auf die Nase.
Erschreckt fällt Igor zu Boden. Er ist verletzt. Nach dem Schlag sitzt seine Brille schief, dahinter füllen sich seine Augen mit Tränen. Ein zittriger Riss durchzieht eines der Gläser und splittert sein Blickfeld. Seine Nase fühlt sich an, als wäre sie gebrochen. Vorsichtig tasten seine Finger nach der Aufprallstelle.
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