Coco Chanel & Igor Strawinsky
begleitet sie schwungvoll auf dem Klavier. Schließlich beginnen die Kinder, Coco und Suzanne zu tanzen.
Die Musik trifft auf die Wände und prallt zurück. Coco schiebt mit beiden Händen ihr Haar hoch. Während die Kinder miteinander tanzen, löst sie sich aus der Gruppe und tanzt in einem größeren Kreis um sie herum. Sie reagiert auf die Betonungen in der Musik, spürt, wie sie mit ihrem Inneren harmonieren. Die hohen Töne scheinen glühende Leidenschaft auszudrücken, die tiefen Töne wecken innigere Verbundenheit. Zwischen seiner Musik und ihren Bewegungen scheint sich ein Dialog zu entspinnen. Im grellen Licht des Blitzes, der das Zimmer erhellt, wirkt sie für einen Moment lüstern.
Mit wachsender Unruhe bemerkt Jekaterina die Vertrautheit, die sich zwischen Coco und ihrem Mann entwickelt hat. Es ist nicht zu übersehen, dass zwischen ihnen ein enges, unausgesprochenes Band besteht. Sie ist schockiert darüber, dass es so schnell gegangen ist, und fühlt sich verletzt und ausgeschlossen. Die Haltung der beiden Frauen zueinander hat sich seit ihrer Begegnung vor einiger Zeit verhärtet. Jetzt wünscht sie, sie hätte sich nicht herunterlocken lassen. Die Musik und der Donner verschmelzen in ihrem Kopf zu einem rhythmischen Stampfen.
Einer der Tänze endet. Die Kinder stürzen zu ihrer Mutter
und erwarten ein Lob. Stattdessen schnaubt sie missbilligend und dreht den Kopf zur Seite. Doch daraufhin wenden sich die Kinder von ihr ab und rennen zu Coco, die sie zurück auf die Tanzfläche winkt.
Auf Drängen der Kinder beschleunigt sich die Musik. Suzanne und Ludmilla wirbeln immer schneller durchs Zimmer. Coco hält sich sehr gerade - das Ergebnis jahrelanger Ballettstunden bei ihrer Freundin Caryathis. Ihre Gestalt findet eine unheimliche Symmetrie in den schmalen Verandatüren am Ende des Zimmers.
Die Akkorde bauen sich auf, die Musik perlt. Ein Blitz zuckt in hell leuchtenden Bändern über den Himmel, unvermittelt treten die Bäume reliefartig aus dem Dunkel hervor. Gestaltloses Donnergrollen folgt. Wolkenfetzen jagen über ihren Köpfen dahin. Igor spielt immer lauter und drängender. Cocos Nacken schmerzt. Und sie hat das Gefühl, als dehne sich in ihrem Kopf etwas aus. Das Gefühl keimt auf und wächst in ihr heran, Kreis um Kreis, bis die Stühle, Tische, Lampen und das Klavier in einem schwindelerregenden Rad ineinanderfließen. Die Zimmerdecke dreht sich. Der Kronleuchter in ihrem Zentrum zersplittert das Licht. Die Musik schwillt zum Fortissimo an, der Tanz wird immer schneller und schneller, bis Coco in kalkulierter Selbstvergessenheit zusammenbricht und Igor vom Klavier aufspringt, um sie in seinen Armen aufzufangen.
Jekaterina traut ihren Augen nicht. Zornesröte steigt ihr ins Gesicht. Ihr Mund zuckt nervös. Das ist zu viel.
Igor sieht verwirrt aus. Coco spielt immer noch die Ohnmächtige. Marie, die gerade mit Tee hereinkommt, ist schockiert von dem Bild, das sich ihr bietet. Spontanes Mitleid mit Jekaterina ringt in ihr mit dem Drang, sich zu vergewissern, dass es Coco gut geht. Aber noch ehe sie sich zwischen
diesen beiden widerstreitenden Gefühlen entscheiden kann, schickt man sie hinaus, um einen Waschlappen und etwas Wasser zu holen.
Igor stützt Cocos Hinterkopf mit einer Hand, während er vorsichtig etwas Wasser in ihren Mund rinnen lässt. Die Kinder und Suzanne drängen sich um ihn. Das Bewusstsein, ein Publikum zu haben, lässt ihn die heilenden Rituale noch sorgsamer vollziehen.
Coco öffnet die Augen und schaut benommen auf. Igor sieht, wie sich ein glasiger Film über ihre Pupillen legt. Er lockert ihr Halstuch. Ein süßer Duft stiehlt sich in seine Nase, als er einatmet.
»Los jetzt. Ab ins Bett!« Jekaterina sammelt ihre Kinder, um sie nach oben abzuführen.
»Geht es Mademoiselle Chanel nicht gut?«, fragt Soulima.
»Es geht ihr bestens«, antwortet seine Mutter kurz angebunden. »Glaub mir!«
»Aber sie sieht krank aus«, beharrt der Junge.
Jekaterina stützt sich auf einem Stuhl ab. Es kommt ihr vor, als werde ihre eigene Schwäche verhöhnt. »Ich kann dir versichern, es geht ihr sehr gut.« Schmerzlich presst sie jede Silbe einzeln hinaus. Sie spricht deutlich genug, dass Coco sie hören kann.
»Danke, Soulima. Mir fehlt nichts«, bringt Coco mühsam heraus und richtet sich auf. Auch wenn Jekaterina es kaum glauben würde, sie hat das nicht geplant. Sie fühlte sich tatsächlich einer Ohnmacht nahe. Das Tanzen hat sie für einen Moment schwindlig gemacht.
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