Coco Chanel & Igor Strawinsky
Aristokratie, deren Arroganz offen zutage tritt.
Ihr Verhältnis zu Jekaterina wird zusätzlich dadurch verkompliziert, dass sie im Alter von elf Jahren mit ansehen musste, wie ihre Mutter elend an Schwindsucht starb. Jetzt ist ein Teil von ihr voller Groll, weil Igors Frau verhätschelt wird, während ihre Mutter von ihrer Krankheit so schnell dahingerafft
wurde, wie es nun einmal den Einsamen und Verarmten vorbehalten ist.
Ein unbehagliches Schweigen senkt sich auf die beiden Frauen herab, nur durchbrochen von den experimentellen Klavierakkorden im Erdgeschoss. Ihre Befangenheit wird noch gesteigert durch die Freundschaft, die Coco so offensichtlich mit Igor verbindet. Jekaterina glaubt nicht an Freundschaften zwischen Mann und Frau. Letzten Endes sind sie doch alle nur vorgetäuscht oder erotischer Natur, denkt sie. Abgesehen von Igor, den sie gern als ihren besten Freund betrachtet, gab es für sie nie eine nennenswerte Freundschaft mit einem anderen Mann. Natürlich mag sie Diaghilew, aber das ist etwas anderes. Er zieht ohnehin Männer vor.
Die Blicke der beiden Frauen begegnen sich.
»Der Arzt hat gesagt, Sie brauchen frische Luft.«
»Ich weiß.«
»Soll ich das Fenster öffnen?«
Jekaterina zögert. Es ist das erste Mal, dass sie allein zusammen sind. Instinktiv misstraut sie Coco und hält sie für durchtrieben. Trotzdem würde sie sie gern mögen - und von ihr gemocht werden. Diese Frau verfügt über ein unleugbares Charisma, das muss sie anerkennen. Wieder versucht sie, ihrem kraftlosen Haar etwas mehr Volumen zu geben.
»Ja, bitte«, sagt sie.
Coco steht von ihrem Stuhl auf. Sie zieht die Vorhänge komplett zurück und drückt gegen das Fenster. Es ist klebrig und feucht. Jekaterina hat vorhin nicht geschafft, es zu öffnen. Aber nach einem kräftigen Stoß gibt es nach und öffnet sich weit. Ein warmer Luftzug strömt herein und verteilt sich im Zimmer. Die Vorhänge flattern wie Schleier, die Notenblätter auf dem Bett rascheln, und Jekaterinas Haarspitzen
werden angehoben. Die plötzliche Helligkeit lässt sie zurückschrecken.
»So ist es besser«, verkündet Coco.
»Ja«, sagt Jekaterina, durch Cocos entschiedenen Ton noch zusätzlich eingeschüchtert.
»Die Sonne gibt Ihnen neue Energie.«
Aber die Sonne verspottet Jekaterina mit ihrer Verheißung von Wohlbefinden und Gesundheit. Coco setzt sich wieder hin. Sie stellt die Füße nebeneinander, dann schlägt sie die Beine erneut übereinander. Im Zimmer herrscht weiter verlegenes Schweigen, während das Klavier eine schwierige Passage wiederholt.
Jekaterina starrt auf die Bettdecke. Ihr Hals ist trocken, aber sie widersteht der Versuchung, noch einmal nach ihrem Wasserglas zu greifen, denn das könnte als Zeichen der Schwäche ausgelegt werden.
Sie weiß von Cocos Herkunft - der unehelichen Geburt, dem Waisenhaus -, und sie bewundert die unbändige Willenskraft, aus der sie geschöpft haben muss, um sich nach oben durchzubeißen. Aber gleichzeitig hat sie in Cocos Gegenwart auch immer das Gefühl, als rase ein Wirbelsturm auf sie zu, und das verunsichert sie.
Spontan steht Coco wieder auf und geht auf den Schrank zu. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mir ein paar von Ihren Kleidern ansehe?«
Die Bitte überrascht Jekaterina. Sie wirkt vermessen. Aber Coco bewegt sich so schnell, dass sie sich wehrlos fühlt. Es ist eine weitere Erinnerung daran, dass sie nur dank Cocos Großzügigkeit hier wohnen. Es ist ihr Haus. Sie bezahlt den Arzt, sie begleicht alle Rechnungen. Was bleibt ihr da anderes übrig? Soll sie es ihr verbieten? Das Gefühl, ihr zu Dank verpflichtet zu sein, liegt wie eine Last auf ihrer Brust und
macht ihr das Atmen noch schwerer. Ihre Stimme klingt gepresst, als sie antwortet. »Nein, gar nicht.«
Mit einem Ruck zieht Coco die Schranktüren auf. Ein süßlicher, muffiger Geruch schlägt ihr entgegen. Jekaterina hat das Gefühl, jeglicher Privatsphäre beraubt zu werden. All ihre Sachen liegen bloß. Die Geste ist so intim, dass sie sich fast vergewaltigt fühlt.
Die meisten Stücke ihrer Garderobe sind überladene Abendroben und Kleider. Hauptsächlich Winterkleidung, nicht allzu viel, das auch für den Sommer geeignet wäre. Dazu ein paar volantbesetzte Blusen im Zigeunerstil, einige Pelze, verschiedene Blusen mit Pelzkragen und eine Vielzahl von Röcken.
»Das meiste davon ist mir inzwischen zu groß.«
»Das gefällt mir«, sagt Coco und zieht einen schlichten, weit ausgestellten Rock heraus. Prüfend
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