Coco Chanel & Igor Strawinsky
dieser Frau.
Dass sie und Coco unter einem Dach leben, fordert unweigerlich zu einem Vergleich heraus. Und diesem Vergleich stellt sich Jekaterina nicht gern, nicht einmal insgeheim. Außerdem fühlt sie sich gedemütigt, weil Coco darauf besteht, ihre Arztrechnungen zu bezahlen. Sie ist voller Groll und ihr gleichzeitig zu Dank verpflichtet, und so schwanken ihre Gefühle zwischen zwei entgegengesetzten Polen.
»Wie bitte?« Coco ist schon auf dem Weg nach draußen.
»Danke für Ihren Besuch.« Ihre Stimme klingt aufrichtig. Sie weiß, dass sie es sich nicht erlauben kann, sich diese Frau zum Feind zu machen.
»Ach ja. Keine Ursache. Auf Wiedersehen«, erwidert Coco betont beiläufig. Sie hält kurz inne, beschleunigt dann ihre Schritte und verlässt den mit Licht und frischer Luft erfüllten Raum.
Wieder bekommt Jekaterina einen heftigen Hustenanfall. Coco hört ihr ersticktes Würgen, während sie mit unsicheren Schritten die Treppe hinuntergeht.
Kapitel 8
IM LAUFE DES Nachmittags ballen sich dunkle Gewitterwolken zusammen und türmen sich zu einer verfrühten Dämmerung auf. Die Ulmen schwanken, Fensterläden klappern in schnellem Stakkato. Es beginnt zu regnen.
Beim ersten Blitz kommen die Kinder herein. Die Hunde spüren die elektrischen Entladungen und bellen wütend. In einem abergläubischen Reflex versteckt Marie das Silber. Coco sieht zu, wie Regen an die Fensterscheiben prasselt. Ein Blitz zuckt über das Glas. Er sieht aus wie der Glühfaden einer Glühbirne.
Das Unwetter hält auch nach dem Abendessen an. Igor hört, wie sich mit einem Klicken die Tür zu seinem Arbeitszimmer öffnet. Es ist Coco. Er sieht ihr Spiegelbild im Fenster. Schatten rinnen in Schlieren über ihr Gesicht. Er dreht sich um. Sie wirkt freudig erregt.
»Wunderschön, finden Sie nicht?«
Gewitter faszinieren sie - je spektakulärer, desto besser. Sie liebt ihre Wucht, ihre Fähigkeit, die Erde zu zerschmettern. Sie fühlt sich plötzlich lebendiger und verspürt das dringende Bedürfnis, daran teilzuhaben, wie eine galvanische Batterie Energie aus dem Wüten des Sturms zu ziehen. Doch nachdem sie Igors Arbeitszimmer betreten hat, wird sie plötzlich ungewohnt zaghaft. Sie ist nur hier, weil sie ihn sehen will, einen anderen Grund gibt es nicht. Es kommt ihr seltsam vor, dass es in ihrem eigenen Haus Bereiche gibt, zu denen ihr der Zutritt verwehrt zu sein scheint, aber Igor hat
mit seinem ausgeprägten Sinn für Privatsphäre diesen Raum bereits zu seinem Reich gemacht. Plötzlich verspürt sie den Wunsch, aus dem Zimmer zu fliehen, aber sie kann nicht einfach wieder gehen. Dann sähe es so aus, als hätte es für ihren Besuch keinen Grund gegeben. Ein weiterer greller Blitz vor dem Fenster reicht als Zündfunke für eine Entscheidung. »Lassen Sie uns etwas Besonderes machen«, bricht es aus ihr heraus.
»Was denn?« In seinen durch die Brille vergrößerten Augen spiegelt sich noch der letzte Blitz.
An den vergangenen Abenden hat Igor mit seinen Kindern Schach gespielt. Aber dieser Zeitvertreib ist für den heutigen Rahmen viel zu geruhsam, findet Coco. Stattdessen schlägt sie vor, dass die Kinder gemeinsam Lieder und Tänze aufführen sollen.
Als er sie anschaut, verlagert sie ihr Gewicht in die eine Richtung, während sich der Kopf zur anderen Seite neigt. Es bildet sich ein Winkel zwischen ihrem Oberkörper und den Beinen, als hätte er auf dem Klavier benachbarte Akkorde angeschlagen.
Sie kommt auf ihn zu und greift nach seiner Hand. »Kommen Sie schon.«
Er genießt die plötzliche Berührung ihrer Handfläche, den Druck ihrer Haut an seiner. Seine Finger kribbeln und erinnern sich an den Stromstoß, der sie bei ihrer ersten Begegnung verbunden hat. Er steht auf und scheint auf die Tür zuzuschweben.
Das Klavier wird ins Wohnzimmer geschoben, um den Gesang zu begleiten. Obwohl Jekaterina zu krank ist, um sich zu beteiligen, überredet man sie, herunterzukommen und zuzuschauen. In Decken eingehüllt, sitzt sie in einem Sessel und wartet darauf, unterhalten zu werden.
Sie beginnen mit russischen Volksliedern. Coco schließt sich den Kindern an, so gut es geht, indem sie mitsummt, sobald sie sich die Melodie gemerkt hat. Dann singen die Kinder ein paar französische Lieder, die Coco ihnen im Laufe des Tages beigebracht hat. Josephs und Maries Tochter, die vierzehnjährige Suzanne, stimmt mit ein. Sie unterstützt die Kinder bei der Melodie und füllt die Lücken, wenn sie beim Text unsicher sind. Igor
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